Brad Mehldau

Bach-Metamorphosen

Statt mit Jazz-Klassikern hat sich der amerikanische Pianist offiziell erstmals mit einem Barock-Klassiker beschäftigt. Doch im Gegensatz zu all den anderen Bach-Jazz-Projekten ist After Bach eine durch und durch poetische Würdigung, die mit Jazz im Grunde nichts zu tun hat.

Von Guido Fischer

Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum? Er denkt nicht daran. Wenn Bach heute lebte, vielleicht hätte er den Shimmy erfunden oder zumindest in die anständige Musik aufgenommen.“ Schon in den Goldenen Zwanzigern erkannte ein Bad Boy wie Paul Hindemith, was für ein Jazz-Potenzial in der Musik Johann Sebastian Bachs steckt. Und prompt machte Hindemith die Probe aufs Exempel. Mit einem knackigen, noch nicht mal vierminütigen Ragtime für Orchester, für den er eine Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier ausschlachtete und verballhornte. Für alle Hüter des abendländischen Klassik-Erbes bedeutete 1921 dieser Ragtime natürlich eine provokante Ungeheuerlichkeit, sahen sie den übergroßen Bach damit doch entehrt und entheiligt. Doch was Hindemith damals als nachweislich erster Komponist wagte, hat längst mehr als nur Schule gemacht. Bach und der Jazz – das ist in den Folgejahrzehnten trotz der immer wieder aufziehenden Gegenwinde zu einer wahren Erfolgsstory geworden. Dank einer hochkarätigen Schar von Musikern, die zwischen Bachs Kunstmusik und dem amerikanischen Jazz-Idiom erstaunliche Kontaktstellen und Nervenverbindungen feststellten.

Nach Jacques Loussier und dem Modern Jazz Quartet, nach den Swingle „Schubi Dubi“ Singers und Uri Caines musikalisch upgedateten Goldberg-Variationen präsentiert also jetzt Brad Mehldau seine Annäherung an den Thomaskantor. Und bereits der Albumtitel After Bach verrät etwas von der Dramaturgie. Jeweils einem Originalstück von Bach lässt Mehldau eine Art Metamorphose folgen. Wobei der Amerikaner betont, dass es sich hierbei auf keinen Fall um einen weiteren Versuch handelt, Bach zu verjazzen. Tatsächlich ist der Respekt unüberhörbar und allgegenwärtig, den Mehldau vor Bach und den ausgewählten Werken hat. Und die haben es in sich, spieltechnisch wie intellektuell. Denn sie stammen allesamt aus dem „Alten Testament der Klavierliteratur“. So hat einmal der berühmte Dirigent Hans von Bülow Bachs Wohltemperiertes Klavier genannt, das sich auf zwei Bände verteilt und mit dem Bach auf eine Neuordnung des Tonartenvorrats reagierte. Mit dem Wohltemperierten Klavier schuf er einen Zyklus, der mit jeweils einem Präludium und einer Fuge systematisch durch alle zwölf Dur- und alle zwölf Moll-Tonarten führt. Und gleich das erste Präludium in C-Dur hat bestimmt jeder schon mal gehört.

Doch diese populäre Präludium-Karte in C-Dur fand Mehldau nun wahrscheinlich zu zweidimensional. So lässt er gleich zu Beginn des Albums auf eine kontrapunktisch angelegte „Benediction“ als erste Verbeugung vor Bach das dauermotorische Präludium in Cis-Dur folgen. Und was selbst bei ausgebufften Klassik-Pianisten schon mal zur öden Geläufigkeitsstudie verkommt, besitzt auf engstem Raum Esprit und Empfindungsreichtum zugleich. Schon hier meistert Mehldau das hundsgemeine Notenbild nicht einfach bravourös. Er bringt diese scheinbar so übersichtliche Klangarchitektur zum Leuchten und in Schwingung.

Mutig erscheint es trotzdem, sich unmittelbar danach seinen eigenen kompositorischen Reim auf das Bach-Stück zu machen. In Form eines „Rondos“, dem im Laufe des Albums noch weitere, ähnlich bezeichnete Bach-Fantasien wie „Pastorale“, „Dream“ und „Ostinato“ folgen werden. Und wie spiegelt Mehldau nun das Cis-Dur-Original in seinem „Rondo“? Mit einem Tritt auf die Bremse verwandelt sich bei ihm das hochenergetische Bach-Stück in eine Minimal-Music-Reflexion im Mid-Tempo und mit kontinuierlich harmonischen Verwandlungskünsten, aus denen ständig dieser leicht post-romantische, elegische Mehldau-Sound aufblüht. Das frühe 18. und das frühe 21. Jahrhundert – hier feiern sie wie überhaupt auf dem gesamten Album After Bach musiksprachlich eine Liaison, wie man sie bisher noch nicht gehört hat. Zumal Mehldau Bach eben jene Musikidiome, mit denen er berühmt geworden ist, weder aufdrückt noch unterjubelt, sondern im Grunde alles aus dem Stimmen- und Stimmungsgeflecht der vier Präludien und zwei Fugen entwickelt. Daher hat denn etwa auch das auf dem f-Moll-Doppelpaar BWV 857 basierende Stück „Dream“ kaum etwas mit einer Jazz-Ballade zu tun.

Dass sich Brad Mehldau auch klassisch auf einem derartigen Niveau bewegt, hatte sich aber schon lange angedeutet. Denn wenn er nicht gerade mit seinem Trio oder im Duo mit Joshua Redman den guten, alten Jazz-Standards oder jüngeren Pop- und Rock-Hits seine Hände auflegte und in ihnen auch einen urmelancholischen Kern entdeckte, tat der begeisterte Rilke- und Thomas-Mann-Fan sich immer wieder mit klassischen Top-Sirenen wie Anne Sofie von Otter zusammen und widmete sich der nostalgischen Liederwelt von Johannes Brahms. Und weil Brahms im 19. Jahrhundert zu den wirklich großen Bach-Bewunderern zählte, schließt sich jetzt für den Bach-Schwärmer Mehldau mit seinem Album vorerst der Kreis. Es bleibt zu hoffen, dass mindestens ein After-Bach-II-Album folgen wird.

Aktuelle CD:

Brad Mehldau: After Bach (Nonesuch / Warner)