Binge-Jazz, Folge 13 (März 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Am 27. März werden mal wieder die Oscars verliehen – und fast hätten auch deutsche Jazzmusiker an einem Gewinnerwerk teilgenommen. Okay, die Rolle, die sie in Maria Schraders ansonsten tollem „Ich bin dein Mensch“ einnehmen (noch bis zum 25. Juni in der ARD-Mediathek abrufbar unter https://www.daserste.de/unterhaltung/film/filmmittwoch-im-ersten/videos/ich-bin-dein-mensch-video-100.html), ist nicht gerade schmeichelhaft: Die Instrumentalisten müssen ein Swing-Orchester mimen, das „Puttin‘ on the Ritz“ und eine Rumba spielt, während Menschen mit Liebes-Robotern verkuppelt werden. Wobei es der Regie in dieser Szene offensichtlich völlig wumpe ist, ob die sichtbare Instrumentierung mit der zu hörenden übereinstimmt. Da erklingen beispielsweise Streicher, aber weit und breit erblickt man keine Geige, sondern bloß eine Bassklarinette (ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass sie vom Berliner Jazz-Avantgardisten Gebhard Ullmann gehalten wird. Oder von seinem Androiden-Klon). Aber einem Film, in dem es so komisch und klug beobachtet um die Fragwürdigkeit des Echten geht, verzeiht man diese Bild-/Ton-Schere gerne. Jammerschade, dass es „Ich bin dein Mensch“ zwar auf die Shortlist, nicht aber in die Oscarnominierungs-Endrunde geschafft hat. Der Einsatz von Jazz-Musik als Symbol für gespielte Ekstase wäre definitiv ein gutes Omen gewesen. Denn auch im Vorjahres-Gewinner in der Kategorie „Bester internationaler Film“ wird der Jazz gezielt als Stimmungs-Katalysator verwendet: Am entscheidenden Wendepunkt in Thomas Vinterbergs Komasauf-Dramödie „Der Rausch“ (enthalten in Amazon Prime Video) genehmigen sich die vier Protagonisten einen teuflischen Cocktail, der einer Legende zufolge von Jazzmusikern aus New Orleans erfunden wurde. Danach tanzen die Hauptdarsteller volltrunken und sehr lustig zum Funk-Klassiker „Cissy Strut“ der Meters, der bekanntermaßen die Blau(sic!)pause zu John Scofields Überjam- und Martin, Medeski & Wood-Phase lieferte.

Leider wird die Jazzfunk-Pionierarbeit der Meters, die sich 1965 in New Orleans gründeten, viel zu wenig gewürdigt. Auch in Nelson Georges Dokumentation „Finding the Funk“ (https://www.youtube.com/watch?v=d7RIakcVgp4) sind die Mannen um Gitarrist Leo Nocentelli nur als Fußnote vertreten. Was aber völlig verständlich ist, weil von James Brown bis Bernie Worrell nahezu die gesamte Crème de la Crème der Funk-Geschichte mit Wortbeiträgen vertreten ist. Dass Prince in dem 2013 veröffentlichten Film fehlt, verwundert übrigens nicht. Dieser hatte nämlich eine ausgesprochene Abneigung gegen Regisseur Nelson George, welcher früher mal Musikkritiker war (Prince widmete ihm sogar einmal einen eigenen Hass-Song). Dafür gelang es George, einen nicht weniger einflussreichen Künstler vor die Kamera zu holen, der sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat: den legendären Sly Stone. Das kleine Männlein in dem viel zu großen Parka ist so etwas wie die gute Seele in „Finding the Funk“. Sly mag zwar nicht ganz von dieser Welt zu sein, ist aber dennoch die modernste Figur in der gesamten Dokumentation. Weil es für ihn schon Ende der 1960er völlig selbstverständlich war, Frauen wie die Trompeterin Cynthia Robinson in seiner Band zu haben, um das Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft auf der Bühne vorzuleben. Sly Stone tat damit sicherlich mehr für den respektvollen Umgang der Geschlechter miteinander als die ultrasexistischen Softporno-Plattencover der Ohio Players, die in „Finding the Funk“ als Befreiung und Feier des afroamerikanischen Frauenkörpers hochgejazzt werden.

Ein aus heutiger Sicht ähnlich groteskes Missverständnis ist auch der Auftritt, den Thelonious Monk 1969 im französischen Fernsehen hatte. Verschiedene Ausschnitte der Sendung „Jazz Portrait“ kursieren im Netz, und zwar zum Glück nur jene, in denen Monk Klavier spielt (etwa „Round Midnight“: https://www.youtube.com/watch?v=tKsV1b81GPk oder „Nice Work If You Can Get It“: https://www.dailymotion.com/video/x1kmuu). Was vor und zwischen den Stücken geschah, zeigt der französische Filmemacher Alain Gomis in seiner Meta-Dokumentation „Rewind & Play“, die im Februar ihre Weltpremiere auf der Berlinale feierte (und hoffentlich irgendwann auf Arte zu sehen sein wird). Gomis hatte Zugriff auf das gesamte Material, das 1969 gefilmt wurde und montiert daraus das quälende Protokoll einer Farce. In „Rewind & Play“ sieht und hört man nämlich auch all das, was nicht gesendet wurde: Etwa die gelangweilten Techniker im Fernsehstudio, die sich quatschend an den Flügel lehnen, während sich einer der größten Improvisationskünstler des 20. Jahrhunderts einspielt. Oder die dicken Schweißperlen und das schwere Atmen Monks, der sich sichtlich so unwohl fühlt, dass einem schon das reine Zuschauen körperliche Schmerzen bereitet. Schließlich die immer absurder werdenden Versuche des Moderators und Jazz-Pianisten Henri Renaud, ein lockeres Interview zu führen. Immer wieder müssen Fragen und Antworten wiederholt werden – mal hat der Interviewer Angst, dass er zu einfältig rüberkommt, mal ist man mit Monks Repliken nicht zufrieden. „Rewind & Play“ ist derart voller diskursiver Misstöne und unterschwelliger Herablassung, dass man sich fragt, wie Monk überhaupt noch in die Tasten greifen konnte. Die traurige Wahrheit ist wohl: Der unendlich erschöpft wirkende Mann kannte es nicht anders.

Absolut filmwürdig, ja geradezu ein Mystery-Thriller, war das Leben und Sterben der Blues-Legende Robert Johnson. Der Gitarrist erweist sich denn auch als gefundenes Futter für die Dokumentationsserie „ReMastered“, die sich ungelöste Kriminalfälle aus dem Musikbereich vorknöpft. In „ReMastered: Devil at the Crossroads“ (Netflix) wird der aus polizeilicher Sicht durchaus kniffeligen Frage nachgegangen, ob Johnson einst tatsächlich an einer Weggabelung unweit der Dockery Farms im Mississippi-Delta seine Seele dem Teufel zum Kauf anbot, um besser Gitarre spielen zu können. Bei seinen Befragungen im einschlägig bekannten Milieu (u.a. Taj Mahal, Keith Richards, Keb‘ Mo‘, Bonnie Raitt) kann Ermittler und Regisseur Bill Oakes zunächst nur feststellen, dass Johnsons Fähigkeiten auf seinem Instrument tatsächlich nicht von dieser Welt waren und man beim Anhören seiner 29 überlieferten Songs leicht den Eindruck gewinnen konnte, dass da drei Leute gleichzeitig Gitarre spielen. Nachforschungen bei Familienmitgliedern (Johnsons Enkel Steven und Michael), Musikhistorikern und Nachfahren von Johnsons Zeitgenossen lassen jedoch einen schrecklichen Verdacht aufkommen: Der vor 111 Jahren geborene Wegbereiter des Rock’n’Roll stand höchstwahrscheinlich gar nicht mit dem Satan im Bunde, sondern übte bloß fleißig. Und zwar unter der Anleitung des väterlichen Gitarren-Mentors Ike Zimmerman, der seine Unterrichtsstunden auf dem Friedhof zu geben pflegte. Seine Begründung: „Egal, wie übel du dich anhörst, niemand wird sich hier beschweren.“ Weshalb Johnson dann aber die unrühmliche Tradition unter teuflisch begabten Musikerinnen und Musikern begründete, mit 27 Jahren zu sterben, wird nicht geklärt. Vielleicht liefert das seit drei Jahren in Planung befindliche Biopic „Love in Vain“ von Peter Ramsey (der als Regisseur des Animationsfilms „Spider-Man: A New Universe“ durchaus Erfahrung mit mythischen Figuren hat) irgendwann eine befriedigende Antwort.