Binge-Jazz, Folge 14 (April 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Mit anderen Worten: Ich bin drei.“ Mit diesen Worten beginnt Charles Mingus‘ Autobiografie „Beneath the Underdog“. In Don McGlynns Dokumentation „Charles Mingus: Triumph of the Underdog“ (https://www.youtube.com/watch?v=2E7Xs8gD3io) ist der coole, cholerische und liebenswerte Bassist, der am 22. April seinen 100. Geburtstag hätte feiern können, jedoch vor allem eines: ein genialer Komponist. Die posthume Uraufführung des großorchestralen Mingus-Werks „Epitaph“ 1989 dient dem Film als Zentrum, von dem aus verschiedene Fäden in die Lebensgeschichte des Bass-Kolosses gesponnen werden. Mit seinen englisch-chinesisch-südamerikanisch-schwedisch-afroamerikanischen Wurzeln fühlte sich Mingus zeitlebens als Ausgestoßener, hört man ihn selbst und seine zwei Ehefrauen Celia und Sue sprechen. Dass ihm diese Position im Niemandsland aber gleichzeitig ermöglichte, kompositorisch alle Grenzen zu sprengen, zeigt die Dokumentation auf eindrückliche Weise. So lässt sich anhand langer Konzert- und TV-Mitschnitte nachvollziehen, wie sich Mingus‘ Schreibkunst von seinen Anfängen bei Lionel Hampton bis zu seinem letzten Quintett mit Trompeter Jack Walrath und Tenorsaxofonist George Adams entwickelte. Private Audioaufnahmen von dem mit schwacher Stimme singenden Mingus machen zu Tränen rührend deutlich, dass der an einen Rollstuhl gefesselte ALS-Kranke noch bis zum Schluss Lieder in seinem Kopf entwarf. Gunther Schuller, Dirigent der „Epitaph“-Rekonstruktion, sieht Mingus auf einer Stufe mit Duke Ellington, Charles Ives oder Karlheinz Stockhausen. Wobei die Werke des Letzteren einfacher aufzuführen seien als die des 1979 verstorbenen Bassisten. Warum? „You don’t have to swing Stockhausen!“

Die eindringlichsten und heftigsten Bilder in dem 1997 veröffentlichten „Triumph of the Underog“ stammen freilich aus einer mehr als 30 Jahre älteren Dokumentation: aus „Mingus: Charlie Mingus 68“ (https://vimeo.com/10769018). Ein Filmteam um den Regisseur Thomas Reichmann besuchte den Bassisten 1966 am Tag vor der Zwangsräumung seines New Yorker Atelier-Appartements. In Kombination mit unglaublich intensiven Live-Aufnahmen, bei denen die Kamera geradewegs in den Kontrabass zu kriechen scheint, entwickelte Reichmann in körnigem Schwarz-Weiß das Psychogramm eines in die Ecke getriebenen Bären. Mit scharfen Worten räsoniert Mingus über den allgegenwärtigen Rassismus, spielt Klavier, gibt seiner fünfjährigen Tochter „Keiki“ Carolyn Wein zu trinken und ballert mit einer Flinte ein Loch in die Decke. „Mit anderen Worten: Ich bin drei. Der Eine steht immer in der Mitte, unbekümmert und unbeteiligt. (…) Der Zweite ist wie ein ängstliches Tier, das angreift aus Angst, selbst angegriffen zu werden. Und dann ist da noch ein liebevolles, sanftes Wesen, das jeden in die entlegenste und heiligste Kammer seines Innern lässt.“ Wer diese drei Personen im Inneren Mingus‘ unmittelbar erleben will, dem sei dieses ungeschönte Dokument ans Herz gelegt.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Pianist Eugen Cicero seinem kleinen Sohn Alkohol verabreichte oder in dessen Beisein mit einer geladenen Wumme herumfuchtelte. Als gesichert gilt jedoch, dass der Vater den Sprössling tief prägte. So sehr, dass er den gleichen unsicheren Berufsweg als Jazzmusiker einschlug. Und das mit großem Erfolg: Roger Cicero gelang das Kunststück, in Deutschland mit so undeutschen Tugenden wie Swing und Sprachwitz millionenfach Platten zu verkaufen. Seit 24. März, dem sechsten Todestag des viel zu früh verstorbenen Sängers, läuft in ausgewählten deutschen Kinos das Doppel-Porträt „Cicero: Zwei Leben, eine Bühne“ (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=DP3bqNEiw_U). Der Autorin Katharina Rinderle und dem Regisseur Kai Wessel, der mit Roger Cicero 2008 für das Knef-Biopic „Hilde“ zusammenarbeitete, gelingt es, überraschend viele Parallelen im Werdegang von Vater und Sohn herauszuarbeiten – die Auftritte in kleinen Bars am Anfang der Karriere (der aus Rumänien geflohene Eugen im Berliner Café Zenner und im Züricher Hotel Kindli, Roger im Hamburger „Angie’s“), die temporäre Liebe für harte Getränke, der Durchbruch als Brückenbauer zwischen dem Jazz und dem Populären sowie eine merkwürdige innere Scheu vor den gnadenlosen Anforderungen des Showgeschäfts. Der Schlagzeuger Charly Antolini ist jedenfalls der Meinung, dass der 1965 durch seine „Rokoko-Jazz“-Einspielung für MPS berühmt gewordene Eugen eine Weltkarriere als Jazzpianist hätte machen können, statt sich als Samstagabendshow-Klimperer fürs deutsche Fernsehen beständig unter Wert zu verkaufen. Und auch bei seinem Sohn wird man das Gefühl nicht los, dass ihn die Rolle als deutscher Sinatra nicht wirklich glücklich machte. Was Eugen und Roger wirklich dachten, erfährt man in „Cicero“ leider nicht; man kann sich das nur aus den Interviewaussagen ihrer Managerinnen und Manager, Mitmusikerinnen und Mitmusiker oder ihrer Angehörigen zusammenreimen. Fest steht: Richtig bei sich waren die beiden Männer nur, wenn sie ohne Hintergedanken und Produkt-Verkaufe ihrer Musik machen konnten. Dafür gibt es in der Dokumentation einige beeindruckende Dokumente – wie etwa Eugen Ciceros atemberaubende Bearbeitung von Bobby Hebbs „Sonny“. Wenn man dann den Song „Ich hätt‘ so gern noch Tschüss gesagt“ hört, mit dem Roger 2007 den plötzlichen Hirninfarkt-Tod des Vaters 1997 verarbeitete, bekommt man einen Kloß im Hals: 2016 starb der Sohn im Alter von 45 Jahren auf die gleiche Weise. Man hätte gern noch Tschüss gesagt.

Dass die heilende Kraft, die wir angesichts von Trauer und Leid aus der Musik ziehen können, kein bloßes Hirngespinst ist, zeigt die 3sat-Wissenschaftsdokumentation „Kraft der Klänge – Musik als Medizin“ (https://www.3sat.de/wissen/wissenschaftsdoku/210913-sendung-wido-100.html) anhand vieler bemerkenswerter Beispiele: So kann Gesang dabei helfen, die Gehirnentwicklung von Frühchen zu unterstützen, durch Tango kommen Parkinson-Patienten im wahrsten Sinne wieder in Tritt, und Lieder vermögen Tunnel in verschüttet geglaubte Erinnerungsschächte von Demenzkranken zu öffnen. Ja, selbst der Jazz kann eine therapeutische Wirkung haben, wie der dänische Kontrabassist und Hirnforscher Peter Vuust am Beispiel der Dopamin-Ausschüttung infolge von Synkopen nachweist (ab Minute 12:30). Ein besonders schönes Forschungsergebnis hat Musikpsychologe Stefan Kölsch parat: Menschen, die mit anderen Menschen Musik machen, verhalten sich danach friedlicher, altruistischer und gemeinschaftsorientierter.

Dass gemeinsames Musizieren zu einer besseren Gesellschaft führt, war auch die Grundüberzeugung von Simon Nikolajewitsch Rywkin. Nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg gründete er in seiner ukrainischen Heimatstadt Cherson ein Jazzorchester für Straßenkinder, das zum Aushängeschild der Kommune wurde. Roman Bondarchuk porträtierte in seinem 2010 begonnenen und 2015 herausgekommenen Film „Dixie Land“ (auf Deutsch: „Kleine Musiker, große Träume – Jazz-Kinder in der Ukraine“) den warmherzigen Orchesterleiter und einige seiner kleinen Stars, allen voran die zehnjährige Polina am Saxofon. Der Trailer haut einen schon derart um (https://www.youtube.com/watch?v=0nyOJKy87lA), dass man inständig hofft, dass die Dokumentation von der ARD nach ihrer Erstausstrahlung 2015 noch einmal ins Programm genommen wird. Gute, wenn auch sehr traurige Gründe gibt es dafür genug: Cherson war die erste Stadt, die vom russischen Militär bei seinem Kriegs-Überfall auf die Ukraine Ende Februar eingenommen wurde. Wenn man an die hoffnungsvollen Gesichter von Simon Nikolajewitsch Rywkins Jazz-Kids denkt, könnte man losheulen.