Binge-Jazz, Folge 15 (Mai 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Falls Sie ein depressiver Oligarch sind und sich gerade fragen: Was hätte man mit dem ganzen schönen Geld anfangen können außer dämliche Fußballvereine zu kaufen, mit Despoten zu kuscheln oder voller Panik die Luxusyacht in Sicherheit bringen zu müssen – nehmen Sie sich doch einfach mal ein Beispiel an der Millionenerbin Pannonica de Koenigswarter, geborene Rothschild! Die Geschichte der wohl berühmtesten Mäzenin des Jazz ist so abenteuerlich und filmreif, dass man sie gar nicht oft genug hören kann: von ihrer Kindheit voll unermesslichen Reichtums in London über ihr Wirken als Widerstandskämpferin gegen die Nazis in Afrika bis hin zu ihrer Entscheidung als fünffache Mutter, sich von ihrem Marschmusik liebenden Mann zu trennen und in New York zu bleiben. Wegen einer Melodie, die ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf ging: Thelonious Monks „’Round Midnight“. In seinem Film „Thelonious Monk & Pannonica“ (verfügbar bis 30. Mai in der Arte-Mediathek unter https://www.arte.tv/de/videos/097561-000-A/thelonious-monk-pannonica/) skizziert der Regisseur Jaques Goldstein die Geschichte der europäischen Baronin und des afroamerikanischen Pianisten, den sie neun Jahre in ihrem Haus in Weehawken bis zum seinem Tod im Jahr 1982 neben 306 Katzen bei sich aufnahm. Dabei liegt Goldsteins Hauptaugenmerk deutlich auf Monks künstlerische Entwicklung, die von Gegenwartsfreidenkern wie Matthew Shipp, Wadada Leo Smith oder William Parker analysiert und in Solo-Performances weitergesponnen wird. Nica agiert bei Goldstein mehr als gute Fee im Hintergrund. Wie unglaublich mutig, cool und ihrer Zeit voraus diese 1913 geborene Frau war, erzählt hingegen die Dokumentation „The Jazz Baroness“ (https://www.youtube.com/watch?v=2TX6Z7NiF0E). Und zwar aus einer Perspektive jenseits der üblichen Fußnoten in den Jazzgeschichtsbüchern. Bei der Filmemacherin handelt es sich nämlich um Pannonicas Großnichte Hannah Rothschild, die sich voller Neugier und Akribie in das Leben des vermeintlichen schwarzen Schafs der Familie versenkte. Und mit lauter skurrilen Details auftrumpfen kann. Unter anderem war es Sitte der britischen Rothschilds, Zebras als Kutschpferde zu benutzen oder sich von Dienern Bäume an den Tisch schleppen zu lassen, um pflückfrisches Obst zu haben, das seinen Namen auch verdient. Ein größerer Kontrast zum Aufwachsen von Monk, Mary Lou Williams oder Charlie Parker, all jener hoch talentierter Frauen und Männer, mit denen Pannonica in New York lebenslange Freundschaften schloss und um die sie sich ohne Rücksicht auf Boulevardpresse und rassistische Grundstimmung in den USA kümmerte, ist kaum denkbar. „Echter Glamour“, stellt Hannah Rothschild angesichts ihrer 1988 verstorbenen Großtante respektvoll fest, „besteht nicht aus Bentleys, Pelzen oder Silberbesteck. Sondern darin, die 52ste Straße in New York entlang spazieren zu können und dabei in einer einzigen Nacht so viele großartige Musiker zu hören, die Songs spielen, die dir gewidmet wurden.“ Lieder für die Ewigkeit wie „Nica’s Dream“, „Thelonica“ oder „Pannonica“, von denen Oligarchen nur träumen können.

Aus illustrem Hause stammt auch der Musikproduzent Mark Ronson, der unter anderem Amy Winehouse und Bruno Mars Welterfolge bescherte: Bei seinen Eltern ging der britische und amerikanische Rock-Adel ein und aus. Was unter anderem dazu führte, dass der 1975 in London geborene Ronson schon als Kind Zugang zu progressiven Instrumenten wie dem für Normalsterbliche seinerzeit unerschwinglichen Synclavier hatte (sein Stiefvater, der „Foreigner“-Frontmann Mick Jones, besaß eines der über 100.000 Dollar teuren Geräte). Wie ihn innovative Klänge prägten und was neue technische Entwicklungen generell für den Fortgang der Musik bedeuten – das erzählt Ronson anschaulich in der sechsteiligen Serie „Watch the Sound“ (auf Apple TV+). Da geht es dann etwa um die Evolution des Autotune-Effekts, der auf einer Software zur Ausmessung des Meeresbodens basiert, die Philosophie des Samplings oder die Historie des Synthesizers (an der erstaunlich viele Frauen wie etwa die britische Pionierin Delia Derbyshire beteiligt waren). Besonders beeindruckend ist die Folge über das Reverb, für die Ronson in die gigantischen Öltanks im schottischen Inchindown kriecht, in denen ein Musiksoftware-Unternehmen den längsten Hall der Welt zur anschließenden Digitalisierung ausmisst. Später wird das monströse Reverb zum Spaß in den Capitol Studios in L.A. über eine Aufnahme des Jazzstandards „More Than You Know“ in einer Version der Sängerin Angel Olsen gelegt. Was gar nicht mal so gut klingt. Auch sehr lustig: Dass Ronson bei dem Treffen mit seinem Schulfreund Sean Lennon in der „Autotune“-Episode ostentativ ein „Steely Dan“-T-Shirt trägt. Nehmt dies, Beatles!

Anderen dabei zuzuschauen, wie sie sich ekeln, erschrecken oder auf die Fresse legen: Davon bekommen Menschen im Gegensatz zu kultivierten anderen Spezies offenbar nicht genug. Was einer der Gründe für die anhaltende Viralität von YouTube ist, dessen Erfolgsgeschichte 2006 mit dem berühmten „Sneezing Panda Baby“ (hier in der Blechblasvariante: https://www.youtube.com/watch?v=iWlBAZVKYYo) begann. Danach wurde es intellektuell nicht unbedingt besser, dafür nur noch absurder – es begann der Triumph der sogenannten „Reaction Videos“, in denen man anderen beim Zuschauen von irgendetwas zuschaute und sich gleichzeitig beim Anschauen filmte, damit andere einem dabei zuschauen konnten. Kopfschmerzen bekommen? Als Gegenmittel empfehle ich die Videos des in Denver lebenden Pianisten und Oscar-Peterson-Fans Charles Cornell. Unter der Rubrik „Jazz Pianist reacts to…“ analysiert der 29-Jährige munter die Musik von Nintendo-Spielen, den „Imagine“-Gesang der Hollywood-Celebreties zu Beginn der Corona-Pandemie (https://www.youtube.com/watch?v=nZu9KbxGEsA&t=322s) oder aktuelle Pop-Songs. Die unbändige Freude, die ein unerwarteter Tonartwechsel bei Cornell auszulösen vermag (etwa in „Jazz Pianist Reacts to Leave the Door Open by Bruno Mars and Anderson.Paak“, ab Minute 4:27, https://www.youtube.com/watch?v=TQ9lVObZhco), ist so ansteckend, dass man danach nie wieder jemanden beim Ausrutschen auf einer Bananenschale zuzugucken braucht. Auch in der Bewertung, wie glaubwürdig die Jazzdarstellung in Filmen wie „Whiplash“, „Soul“, „La La Land“ oder „Spider Man 3“ (sic!) ist, kombiniert Cornell profunde Expertise mit einem sympathischen Sinn für Humor („How Realistic Are These Jazz Scenes in Films?? Jazz Musician Reacts“, https://www.youtube.com/watch?v=5BiCx2LUubk). Und schlägt zumindest in dieser Hinsicht einen Jazzklavier-Star wie Robert Glasper um Längen, der sich zwar über das gleiche Thema auslässt („Jazz Musician Robert Glasper Breaks Down Jazz Scenes From Movies“, https://www.youtube.com/watch?v=S525zDvRulo), aber ein unglaubliches Kunststück fertigbringt: eine der albernsten Film-Szenen mit Jazzbezug der vergangenen Jahre, Will Ferrells Querflötenausbruch in „Anchorman: The Legend of Ron Burgundy“ (https://www.youtube.com/watch?v=_c_ufaxeSTs), bierernst einem Authentizitätstest zu unterziehen, ohne in schallendes Gelächter auszubrechen. Das muss man erst mal hinbekommen!

Überhaupt nicht komisch war der Grund, weshalb sich am 7. April über 70 Jazzkünstlerinnen und -Künstler von Aki Takase bis Hannes Zerbe im Konzertsaal der Berliner Universität der Künste trafen: In einem mehr als sechststündigen Konzert-Marathon sammelte man Gelder für den Einsatz von „Ärzte ohne Grenzen“ in der Ukraine. Den gesamten Abend, der unter dem Coltrane-Motto „Peace on Earth! – Jazz für den Frieden“ stand und ganz nebenbei die unglaubliche Vielfalt der aktuellen Szene abbildet, kann man hier sehen: https://www.youtube.com/watch?v=rHtj_fopE2g (startet in Minute 5:00). Und auf das unter dem Video angegebene Konto kann man übrigens auch weiterhin Spenden überweisen.