Binge-Jazz, Folge 16 (Juni 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Er ist der wahrscheinlich bekannteste lebende Jazzmusiker, seine Songs erreichen Milliarden von Menschen – dennoch halten ihn viele für das Äquivalent zu einer Wurzelbehandlung plus Darmspiegelung ohne Narkose. Warum ist Kenny G nur so unbeliebt? Die Regisseurin Penny Lane, die mit ihrer Satanisten-Dokumentation „Hail Satan?“ schon reichlich Erfahrungen mit dem Antichrist sammeln konnte, ist dieser Frage für die HBO-Reihe „Music Box“ nachgegangen. In „Listening to Kenny G“ (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=mmgg5XObNl8) kommt neben Förderern und dem um Erklärungen ringenden Jazz-Feuilleton vor allem einer zu Wort: Kenny G selbst. „Hey Kenny, wie fühlst du dich?“, fragt die Regisseurin zur Begrüßung. „Generell ein wenig unterschätzt“, gibt der Saxofonist prustend zurück. Man kann es bewundernswert finden, wie gelassen und humorvoll der Mann all jener Missachtung begegnet, mit der er seitens der seriösen Musikkritik und der Kollegenschaft im Jazz gestraft wird. Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass es ihn gar nicht groß juckt, weil er sich in einer komplett anderen Welt befindet. Deutlich wird das, als er danach gefragt wird, was er an Musik liebe. Da antwortet Kenny G nach kurzem Nachdenken mit entwaffnender Ehrlichkeit: „Ich weiß gar nicht, ob ich Musik so richtig liebe.“ Wenn er Musik höre, denke er eigentlich nur an die Mühe, die sie die Ausführenden gekostet habe. Immer wieder wird der Saxofonist dann bei seiner Lieblingstätigkeit gezeigt: beim Üben. Im Wohnzimmer. Hinter der Bühne. Im Bad. Sein Streben nach vollständiger Kontrolle über das Instrument und seinen Klang geht so weit, dass er im Studio praktisch jeden einzelnen Ton so lange einspielt, bis dieser exakt seinen Vorstellungen entspricht. Das hat natürlich nichts mehr mit Jazz zu tun. Eher mit der Arbeit in einer Lackierwerkstatt. Aber ob Kenny Gs Verhalten Hasstiraden wie jene von Pat Metheny rechtfertigt („Er hat auf die Gräber all jener geschissen, die ihr Leben für diese Musik riskiert haben“), erscheint fraglich. Zumal seine Musik nun wirklich keinen Grund zur Aufregung gibt. Im Gegenteil: Sie wirkt derart affektberuhigend, dass der Song „Going Home“ überall in China in Shopping-Malls, Supermärkten und Bahnhöfen als Rausschmeißer zum Feierabend eingesetzt wird. Gewissermaßen als akustisches Opium fürs Volk, wie der Jazzkritiker Ben Ratliff feststellt. Wobei Kommunismus und Uniformität definitiv nicht die Sache von Kenny G sind. Er will überall Herausragendes leisten, stellt er klar – ob auf dem Golfplatz, beim Backen, im Pilotensitz seines Wasserflugzeugs, als Witzfiguren-Meme im Netz oder beim Austüfteln von Melodien. Ja, selbst das Interview, das er Regisseurin Penny Lane gibt, soll das beste ihres Lebens werden. Auch wenn er dafür zwölf Stunden ohne Essen vor der Kamera ausharren müsse, so der Saxofonist. Cringy. Bei Kenny G handelt es sich dennoch nicht um einen musikalischen Missetäter. Sondern eher um eine schräge Missinterpretation des amerikanischen Traums.

Dass er nicht Saxofon spielen könne und ein ganz übler Scharlatan sei: Diese Beschimpfungen musste sich auch ein prominenter Kollege von Kenny G oft genug anhören. Damit hören die Gemeinsamkeiten mit Ornette Coleman aber wahrscheinlich auch schon auf. Vor genau 50 Jahren wurde Colemans episches Orchesterwerk „Skies of America“ in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommen. Eine Aufführung der Suite im Jahre 1983 in Fort Worth, der Geburtsstadt des Jazz-Neudenkers, steht am Anfang einer der wohl unorthodoxesten Musikdokumentationen überhaupt. Shirley Clarkes „Ornette: Made in America“ (https://tube.noise.rocks/videos/watch/4b50d9cf-dda7-4f83-969a-fa3cb7d51cab). Der Film, eine brodelnde Mischung aus Videokunst und postmoderner biografischer Skizze, ist gewissermaßen die Übersetzung von Colemans harmolodischem Konzept auf Bildebene. Rekurrierende Motive werden wie in einem ungehindert sich verselbstständigen Gedankenfluss in einen Dialog mit der amerikanischen Kultur gebracht. Seien es Videospiele, Buckminster Fullers Architektur, Disco oder die Eroberung des Weltalls. Immer wieder scheint dabei Colemans Faszination für die Majestät des Intuitiven auf – etwa in den Gesprächen mit seinem Sohn Denardo, den er als Kind in seinen Bands Schlagzeug spielen ließ, oder in der Auseinandersetzung mit Instrumentalisten aus Nigeria. Die Radikalität Colemans, die Clarke adäquat mit ihrem Film dokumentiert, beeindruckt und erschreckt gleichermaßen. In einer Szene wird gezeigt, wie der Musikvisionär mit seinem Satelliten-Duo-Projekt „The Link“ Anfang der 1980er Jahre Zoom-Konferenzen vorwegnimmt. Und in der nächsten spricht er davon, dass er sich im Alter von 30 Jahren kastrieren lassen wollte, damit ihm der ganze lästige Sex-Kram nicht mehr bei der Kunstausübung dazwischenkomme. Der Arzt konnte ihn als Kompromiss zu einer Beschneidung überreden.

Da ist es vielleicht ganz gut zu wissen, dass die Größen der Musik zuweilen auch relativ normale Dinge tun. Eine wohltuende Erkenntnis, die wir dem Amerikaner John Nolan verdanken. Sein Twitter-Account „Composers doing normal shit“ (https://twitter.com/NormalComposers) versammelt schön obskures Bildmaterial, das bedeutende Komponistinnen und Komponisten von ihrer alltäglichen Seite zeigt. Man sieht da etwa Miles Davis oder Claude Debussy beim Sonnenbaden, Igor Stravinsky in einem Rhönrad, Béla Bartók schlecht gelaunt auf einem Wanderausflug oder Art Blakey inmitten eines freundlichen Karatekampfs mit Lee Morgan. Bevor sich jemand beschwert, dass so etwas in einer Bewegtbild-Kolummne doch nichts zu suchen habe: Es gibt auch jede Menge GIFs. Etwa davon, wie George Gershwin ziemlich grob einen Hund streichelt, Charles Mingus mit der Flinte ein Loch in eine Zimmerdecke schießt und Benjamin Britten auf einem Liegestuhl in eine Blockflöte bläst. Könnte ich mir stundenlang anschauen. Ach ja: Ornette Coleman ist natürlich auch vertreten. Nolan hat ein Foto aufgetrieben, auf dem er mit einer Plastikgitarre „Guitar Hero“ spielt. Der hat aber auch nichts ausgelassen!

Überhaupt nicht normal, für viele geradezu furchterregend, war die Reise in unbekanntes Gebiet, die der neuseeländische Saxofonist Hayden Chisholm vor ein paar Jahren unternahm. In Arne Birkenstocks und Jan Tengelers Dokumentation „Sound of Heimat – Deutschland singt“, die seit Ende April auf Netflix streambar ist, begab sich der notorisch neugierige Jazzmusiker auf die Spuren der deutschen Volksmusik. Chisholm lernte im Allgäu jodeln, begleitete im Erzgebirge Bandoneonspieler, machte Bekanntschaft mit dem Leipziger Gewandhaus-Chor oder dem Bamberger „Antistadl“ und erkundete mit der Sängerin Bobo die Möglichkeiten einer modernen Neuinterpretation alten Liedguts. Es ist ein seltsames Gefühl, diesen vorzüglichen, zwischen 2010 und 2012 entstandenen Film heute zu sehen. Vieles, was Chisholm damals unvoreingenommen entdeckte, wirkt aufgrund von AfD-Völkischtümlerei und Querdenker-Wahn inzwischen wieder schlimm kontaminiert. Dabei kann es so einfach sein, wie man in „Sound of Heimat“ vom Kölner Sänger Gerd Köster erfährt. Der kommentiert die mitunter schiefen Töne eines Kneipenchores, der sich regelmäßig zum Schmettern kölscher Weisen trifft, folgendermaßen: „Man muss gastfreundlich sein. Auch Noten gegenüber. Es darf auch mal eine Gastnote dabei sein!“