Binge-Jazz, Folge 17 (Juli 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Whoop whoop, der Sommerhit des Jahres steht fest! Deutschland genießt dank des 9-Euro-Tickets das Leben in vollen Zügen – und Billy Strayhorn schrieb schon 1939 das passende Stück dazu: „Take the ‚A‘ Train“, eine swingende Feier des öffentlichen Nahverkehrs in New York (die titelgebende Linie A führt von Brooklyn über Lower Manhattan nach Harlem). Dass das wohl berühmteste Strayhorn-Lied landläufig Duke Ellington zugeschrieben wird, umschreibt Fluch und Segen des bahnbrechenden Komponisten und Arrangeurs in nuce. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Ellington bescherte Strayhorn zwar einen zuverlässigen Arbeitgeber, eine Vaterfigur sowie die Gewissheit, dass die beste Big Band der Welt seine Tondichtungen spielt. Gleichzeitig beutete der Orchesterleiter seinen kreativen Handlanger aber auch ganz schön aus, ließ ihn in Rekordzeit komplette Konzertprogramme verfassen oder auf Zuruf Angefangenes vollenden. Credits gab es dafür nicht – ein Großteil der Strayhorn-Songs wurde unter Ellingtons Namen veröffentlicht, so zum Beispiel auch „Take the ‚A‘ Train“. Die 2007 veröffentlichte Dokumentation „Lush Life“ (https://www.youtube.com/watch?v=kq0M1nXvBH4) bringt glücklicherweise ein wenig Licht und Gerechtigkeit in das Leben des bedeutendsten Schattenmanns des Jazz. Billy Strayhorn komponierte in jungen Jahren schon derart beeindruckend, dass seine High-School-Lehrer seine Stücke für Erzeugnisse eines berühmten Vertreters des klassischen Kanons hielten. Was umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, dass es in dem bitterarmen Haushalt der Strayhorns kein Klavier gab. Regisseur Robert Levi konnte eine Riege prominenter Künstlerinnen und Künstler wie Dianne Reeves, Bill Charlap, Joe Lovano, Hank Jones oder Elvis Costello vor der Kamera versammeln, die die zeitlose Raffinesse von Songs wie „Lush Life“ oder „Something to Live For“ mit ihren Interpretationen illustrieren – Lieder, die in melodisch-harmonischer und textlicher Hinsicht wie das bittersüße Resümee eines langen Lebens voller Liebeshoffnung und Einsamkeit klingen, aber in Wahrheit aus der Feder eines Teenagers stammten. Strayhorn war nicht nur musikalisch eine Ausnahmeerscheinung. Er lebte offen homosexuell in einer Zeit, als man dafür in den USA ins Gefängnis geworfen wurde; die Stücke, die er 1953 für die Off-Broadway-Oper von Federico García-Lorcas „The Love of Don Perlimplín for Belisa in Their Garden“ bezeichnete er nach eigenen Worten als „gay-black statement“. 1967 starb der geistreiche, große kleine Mann mit nur 51 Jahren. „Er macht den Großteil des Jobs, aber ich kann mich besser verbeugen“, beschrieb Ellington einmal mit einer gehörigen Portion Selbstironie die Arbeitsteilung zwischen den beiden. Er wusste schon, was er an seinem genialen Alter Ego hatte.

Eindeutig mehr Transrapid als Bummelbahn zwischen Sechtem und Hürth-Kalscheuren war Michael Brecker. Als Vermächtnis hinterließ der vor 15 Jahren von uns gegangene Tenorsaxofonist vieles: schwindelerregende Soli, Studierende mit verknoteten Fingern – sowie das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Stammzellenspenden. Brecker litt am myelodysplastischen Syndrom (MDS), einer Leukämie-ähnlichen Erkrankung des Knochenmarks. Der für seine sanfte Zurückhaltung bekannte Musiker ging mit der Diagnose an die Öffentlichkeit, als eigentlich schon klar war, dass er den Kampf gegen den Blutkrebs verlieren würde. Sein Ziel war es, Menschen zu ermutigen, sich in ein Spendenregister eintragen zu lassen. Deshalb stellte er sich auch für die Dokumentation „More to Live For“ (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=EPHljNdPGFc) zur Verfügung, die drei Jahre nach seinem Tod herauskam. Leider ist der Film nur in den USA auf Amazon Prime Video zu sehen, aber seine Botschaft lässt sich einfach zusammenfassen: Spenderin oder Spender zu werden ist weniger unangenehm als ein Coronatest. Unter https://www.dkms.de/ erfährt man, wie es geht.

Weniger bekannt in Jazzkreisen ist die Tatsache, dass Michael Brecker ein begeisterter Amateurfilmer war. Bill Milkowskis unlängst erschienener Buchbiografie „Ode to a Tenor Titan“ ist zu entnehmen, dass der Tenorist unter dem Künstlernamen „Stanley Kubrecker“ höchst alberne Werke fürs Heimkino aufnahm. Eines davon hat es sogar von Breckers Festplatte ins Internet geschafft – das 2002 während einer Japan-Tour entstandene Action-Drama „Attack of the iPods“ (https://www.youtube.com/watch?v=TbjwQ0hZx08) mit so illustren Gaststars wie Chris Minh Doky, Jeff „Tain“ Watts, Joey Calderazzo, Randy Brecker und Curtis Stigers. Zwar lässt sich über den Inhalt aufgrund der schlechten Klangqualität und der verschrobenen Handlungsführung nicht viel sagen, fest steht aber: Michael Brecker war nicht nur am Saxofon ein Gigant, sondern auch in der Disziplin des Kalauerns. Pod bless America!

Wo wir schon bei eigenartigen Arthouse-Filmen sind: Im Kino stieß ich gerade auf ein aus musikphilosophischer Sicht außerordentlich gelungenes Exemplar. „Memoria“ aus dem Paralleluniversum des thailändischen Leinwand-Metaphysikers Apichatpong Weerasethakul ist so etwas wie eine Hyposensibilisierung für den Gehörsinn (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=PDU6B93ltds). Was im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Knalleffekt beginnt, wird zu einer Symphonie des Geräuschs, vom Knarzen eines Stuhls über das orchestrierte Hupen von Autoalarmanlagen bis hin zum Grollen eines sich anbahnenden Gewitters. Ich will nicht behaupten, dass ich alles verstanden hätte (was auch gar nicht das Anliegen des Regisseurs zu sein scheint, der vielmehr das geträumte Unterbewusstsein der Filmgeschichte aufzuzeichnen versucht) – dennoch scheint es mir, dass der Auftritt eines Jazz-Quartetts um den kolumbianischen Gitarristen César López in der Mitte des Films von besonderer Bedeutung ist. Zu sehen, wie die in ihrem optimistischen Drang an Pat Metheny gemahnende Musik verschiedene emotionale Mikroreaktionen imn der Mimik der Hauptdarstellerin Tilda Swinton auslöst, ist jedenfalls ein Ereignis. Meine Empfehlung: Nur in Lichtspielhäusern anschauen und hören, in denen keine Knisterware für den Verzehr während der Vorführung gereicht wird. Oder hoffen und warten, dass „Memoria“ irgendwann im Programm von ZDF oder Arte auftaucht, die als Mitproduzenten aufgeführt sind.

Wer weiter in das geheime Wesen der Klänge eintauchen will: Das handfeste Äquivalent zu Weerasethakuls Geräuschmeditation befindet sich seit ein paar Monaten auf Netflix. Thomas Riedelsheimers 2004 erschienene Sinnesschule „Touch the Sound“ begleitet die Meister-Perkussionistin und Grammy-Gewinnerin Evelyn Glennie auf ihrem Weg durch die Schallwellen verschiedener Metropolen, Landschaften und Gebäude. Das muss man so ausdrücken, weil die weitestgehend taube Schottin mit dem gesamten Körper hört. Dementsprechend vibriert der ganze Film, was sich auch der unermüdlichen künstlerischen Energie Glennies verdankt, die selbst die vermeintlich stummsten Gegenstände zum Singen und Grooven bringt – Essstäbchen, Walkie-Talkies, Schrott. Was für sie das Gegenteil von Klang sei, wird sie gefragt. Stille sei es definitiv nicht, gibt sie zurück. Am ehesten sei es der Tod. Höhepunkte von „Touch the Sound“ sind die Duo-Improvisationen mit dem englischen Gitarrenweiterdenker Fred Frith, die 2007 unter dem Titel „The Sugar Factory“ auf John Zorns Tzadik-Label herauskamen. Aufgenommen wurden sie in einer leerstehenden Zuckerfabrik in Dormagen, das sich übrigens von Köln oder Düsseldorf bequem mit dem 9-Euro-Ticket erreichen lässt.