Binge-Jazz, Folge 18 (August 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Fans der von dem Sieg in der Europa League immer noch freudentrunkenen Frankfurter Eintracht werden jetzt vielleicht entschieden widersprechen: Aber die Institution, die womöglich am meisten für das internationale Ansehen der Stadt getan hat, ist kein Fußballverein. Es handelt sich vielmehr um einen unterirdischen Ort, der einerseits durch seine unsagbar schlechte Luft und andererseits durch seine Spieler von Weltklasseniveau berühmt wurde. Gemeint ist der Jazzkeller Frankfurt, der 1952 von Carlo Bohländer unter dem Namen „Domicile du Jazz“ gegründet wurde. Zum 25. Geburtstag des Kellers machte der Gitarrist Volker Kriegel 1977 im Auftrag des ZDF eine Dokumentation über „Stammkneipe, Vereinsheim, Heimathafen und Trainingslager“ der Frankfurter Szene – eine wilde Musikermischung, der laut Kriegel zwar nicht der große kommerzielle Erfolg beschieden war, die dafür aber auch von Peinlichkeiten verschont blieb. „25 Jahre Jazzkeller“ (https://www.youtube.com/watch?v=ZTeTaBtygdw) ist ein beeindruckendes Dokument der Frankfurter Jazzartenvielfalt der späten 1970er Jahre. Man sieht und hört packende Live-Präsentationen u.a. von der Gruppe Voices um Heinz Sauer (damals noch mit kräftigem schwarzen Haupthaar), von Emil Mangelsdorffs Quartett oder Kriegels Mild Maniac Orchestra. Auf ihre eigene Art brachen sie die Mainstream-Konventionen zugunsten einer sinnlich vibrierenden Tonsprache zwischen Modern und Fusion. Wichtigster Exponent ist natürlich Albert Mangelsdorff, der den Club tagsüber als Übungsraum nutzte und davon überzeugt war, dass er nur wegen des Jazzkellers eine derartige musikalische Entwicklung nehmen konnte. Kriegel spart ungeachtet seines trockenen Humors aber nicht an Kritik – so lässt er scharfe Mahner gegen die kommerzielle Ausbeutung der Musiker genauso zu Wort kommen, wie er die Überalterung des Publikums moniert („Alle zwischen 35 und 45“ – hach, diese Probleme hätte man heute gerne!). Das gänzliche Fehlen von Musikerinnen auf der Bühne schien ihn damals hingegen nicht zu stören. Zum Glück hat sich das im Jazzkeller seitdem geändert – alles Gute zum 70. Geburtstag nach Frankfurt!

Einer, der bestimmt viel Freude an den für den Trad-Jazz vorbehaltenen Abenden im Jazzkeller gehabt hätte, war Philip Larkin. Der Universitätsbibliothekar aus Hull war nämlich sowohl einer der bedeutendsten englischen Dichter des 20. Jahrhunderts als auch ein großer Kenner des prämodernen Jazz; zwischen 1961 und 1971 arbeitete er regelmäßig als Jazzrezensent für den Daily Telegraph. Dass mich ausgerechnet Olli Schulz im Podcast „Fest & Flauschig“ auf Larkin brachte, begreife ich als ausgleichende Gerechtigkeit. Schließlich hatte es Schulz in seiner sonst ziemlich gelungenen Roadtrip-Serie „Sound of Germany“ (in der ARD-Mediathek auffindbar unter: https://www.ardmediathek.de/sendung/sound-of-germany/staffel-1/Y3JpZDovL25kci5kZS80NzI2/1/) sträflicherweise versäumt, bei seiner Reise ins Herz der deutschen Musikbefindlichkeit auch mal jemanden aus dem Jazz-Sektor zu Wort kommen zu lassen. Zurück zu Larkin: Auf Youtube fand ich ein Biopic über sein Leben mit Hugh Bonneville in der Hauptrolle (ja, Lord Grantham aus „Downton Abbey“!) unter der leider etwas irreführenden Überschrift „Philip Larkin: Life, Love and Jazz“ (https://www.youtube.com/watch?v=tK921e0s0wM). Denn während man dank der feinen Schauspielerinnen und Schauspieler viel über das für alle Beteiligten anstrengende Liebesleben des 1985 verstorbenen Poeten erfährt, beschränkt sich der Jazz-Anteil auf ziemlich peinliches Luft-Swingschlagzeugspiel seitens Bonneville und ein bisschen Billie Holiday im Hintergrund. Dennoch dürfte die zweifellos liebe- und humorvolle Produktion durchaus jenem Mann gerecht werden, der sein dichterisches Werk einmal so umschrieb: „Depressionen sind für mich das, was Narzissen für Wordsworth waren“. Einen etwas besseren Eindruck von Larkins Jazz-Enthusiasmus gewinnt man vielleicht, wenn man ihn seine Ode an Sidney Bechet vortragen hört („For Sidney Bechet – Philip Larkin“: https://www.youtube.com/watch?v=zEOeeOtXOKU).

Was für eine grenzüberschreitende Angelegenheit der Jazz ist, sieht man auch am Humor. „Was würde ein Jazzmusiker tun, wenn er eine Million gewinnt?“, fragt der Trompeter Misho Yosifov am Ende des Netflix-Überraschungsfundes „Life Is an Eternal Swing“. Die Antwort lautet in den einschlägigen Kreisen in New York, Berlin und Sofia gleich: „So lange spielen, bis das Geld weg ist!“ Der Film des Belgiers André Chandelle ist jedoch weit mehr als eine launige Dokumentation über eine Jazzband aus Bulgarien (die von den formvollendet im Stile der Andrew Sisters agierenden Sängerinnen Desi, Vera und Roni angeführten „Sentimental Swingers“). Das schon 2015 veröffentlichte Werk ist vielmehr von einer bedrückenden Aktualität – geht es doch um das Leben in einem Land, in dem man die Vorgänge in der Ukraine 2014 schon mit großer Besorgnis sah. Weil man befürchtete, dass der Unaussprechliche aus Moskau seine Klauen nach Bulgarien ausstreckt wie die Sowjetunion einst zu Zeiten des gefürchteten und verlachten bulgarischen Staatsführers Todor Schiwkow. Chandelle gelingt es, anhand der Geschichten seiner musizierenden Protagonisten ein plastisches Porträt des Ringens nach Freiheit und Selbstbestimmung im Kommunismus und Postkommunismus zu zeichnen. Denn weder war es vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Bulgarien ständig fürchterlich (wiewohl es Zwangsumsiedlungen oder ein zeitweiliges Jazzverbot gab), noch wurde mit der Demokratie und dem westlichen Wirtschaftssystem alles gut. Da konnte es schon mal vorkommen, dass dem Posaunisten an der Bar eine Wumme an den Kopf gehalten wurde, um seine Toughness zu testen, oder dass eine der Sängerinnen entführt und einem Gangsterboss zugeführt wurde (zum Glück ließ er sie laufen, ohne sich an ihr zu vergehen). Wie man den Widrigkeiten von Kommunismus, Korruption und Kapitalismus mit hart erarbeiteter musikalischer Leichtigkeit trotzt, zeigt „Life Is an Eternal Swing“ auf beeindruckende Weise. Letztendlich ist der Film des Wahl-Bulgaren Chandelle eine einzige große Liebeserklärung an den Jazz, Bulgarien und seine Frau Vera, die platinblonde Leadsängerin der „Sentimental Swingers“.

Man kennt sie als Peggy Olson aus „Mad Men“ und als Hauptdarstellerin von Serien wie „The Handmaid’s Tale“ oder „Top of the Lake“: Doch wenige dürften wissen, dass Elisabeth Moss ihren ersten Auftritt vor der Kamera an der Seite von Chick Corea hatte. Im Musikvideo zum Stück „Eternal Child“ der Elektric Band (https://www.youtube.com/watch?v=McohaavKlf0) spielt die fünfjährige Moss eine kleine Ballerina. Die Besetzung war sicherlich kein Zufall, handelte es sich bei Corea doch um den Patenonkel der späteren Starschauspielerin. Elisabeths Vater, Ron Moss, arbeitete nämlich als Tourmanager des Pianisten. Kennen gelernt hatte man sich durch Scientology – was auch der Grund für das relativ unmotivierte Auftreten von zeitweiligen L.-Ron-Hubbard-Jüngern wie John Travolta oder Al Jarreau in dem ziemlich cheesy geratenen Videoclip sein dürfte. Die Filme und Serien, in denen Elisabeth Moss danach mitwirkte, waren trotz der fehlenden Jazz-Tonspur deutlich besser – fast so gut wie Eintracht Frankfurt in der vergangenen Europapokal-Saison.