Binge-Jazz, Folge 21 (November 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Dass Musiker die besseren Menschen sind, ist ja auch nur so ein Vorurteil. Man nehme etwa den Blues-Gitarristen Buster, der seinen linkischen Sohn Bayou fortlaufend demütigt, weil er nicht so gut Trompete spielen kann wie sein extrem fieser Bruder Willie Earl. Wer aber denkt, dass Bayou musikalisch völlig untalentiert ist, wird im Laufe von „A Jazzman’s Blues“ (seit Ende September auf Netflix) aufs Schönste eines Besseren belehrt. Wie überhaupt fast nichts in dem Spielfilm von Regisseur und Autor Tyler Perry ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Was schon beim Genre anfängt – von Perry, der mit seiner albernen „Madea“-Reihe berühmt wurde, in der er er eine krawallschachtelige Frau spielt, hätte man mit ziemlicher Sicherheit eine Schenkelklopfer-Komödie erwartet. Aber nicht unbedingt ein solch melodramatisches Südstaaten-Epos, das es in puncto Tragik und Liebesschmacht locker mit der guten alten Hollywood-Tradition aufnehmen kann (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=PCggYIdUpyw). Allerdings ist auch das nur ein falscher erster Eindruck. Denn in „A Jazzman’s Blues“ geht es gut getarnt um die Lügen des Rassismus und die Fragilität der Identität. Was als nostalgisches Kino mit einem Soulfood-Brutzel-Hauch von Onkel Toms Hütte beginnt, endet brutal und mit einer überraschenden Erkenntnis. Auf dem manchmal etwas langen Weg dorthin hat Perry gut kuratierte Musikdarbietungen in der Handlung als Ruheinseln verteilt (Terence Blanchard sorgte gewohnt hochklassig für die Arrangements). Man hört den Blues aus den Juke Joints des Südens, eine Tanzrevue-Version von Charlie Parkers „Ornithology“ – und erfährt, dass Bayou zwar ein miserabler Kornettist, dafür aber ein höchst eleganter Sänger ist. Dass Darsteller Joshua Boone, der Bayou auch seine Singstimme leiht, wie ein weißer Crooner à la Michael Bublé klingt, passt übrigens perfekt: Nichts ist nämlich trügerischer als die Hautfarbe.

Wo wir schon bei großem Kino sind: „A Jazzman’s Blues“ spielt in weiten Teilen in den 1940ern, also zu jener Zeit, als Hollywood den modernen Jazz als künstlerische Ausdrucksform ernst zu nehmen begann. Als erstes und besonders gelungenes Beispiel für diese Auseinandersetzung auf Augenhöhe gilt der Kurzfilm „Jammin‘ the Blues“ aus dem Jahr 1944 (hier kann man ihn sehen: https://www.youtube.com/watch?v=rWDxsudvCX4). Der von dem Fotografen Gjon Mili mit der Unterstützung von Konzertimpresario Norman Granz realisierte 10-Minüter gibt qua Off-Kommentar am Anfang vor, eine Jam-Session mit Größen wie Lester Young, Illinois Jacquet, Harry „Sweets“ Edison oder Papa Jo Jones zu dokumentieren. In Wirklichkeit dienen die Musiker sowie die Sängerin und Tänzerin Mary Bryant aber in erster Linie als geometrische Figuren, die von Mili und seinem Kameramann Robert Burks (der später regelmäßig mit Alfred Hitchcock zusammenarbeitete) perfekt und fantasievoll inszeniert werden. „Jammin‘ the Blues“ ist ein einziger grafischer Augenschmaus, der vieles vorwegnimmt, was später zum Standard in Musikclips werden sollte. Zwar kann man dem Werk, das 1945 für den Oscar in der Kurzfilm-Kategorie nominiert wurde, den Vorwurf machen, dass es die Musik nur als schmucke Projektionsfläche benutzt und ihm die Ausführenden bloß als Staffage dienen (dazu passt, dass Gitarrist Barney Kessel nur im Halbschatten zu sehen ist und seine Finger mit Beerensaft eingefärbt wurden, weil man keinen weißen Musiker zeigen wollte). Dennoch lässt sich festhalten, dass „Jammin‘ the Blues“ erstmals einen Look etablierte, der den Jazz vom Image als hysterisch-sensationslüsterne Unterhaltungskunst befreite.

Im Iran wäre man wahrscheinlich froh, wenn man in den 1940er Jahren leben würde – und nicht im Mittelalter. Wie elendig weit und gefahrvoll der Weg gerade für die Frauen zu einem halbwegs selbstbestimmten Leben ist, zeigen die aktuellen Kopftuch-Proteste in der islamischen Republik noch einmal in aller Deutlichkeit. In der westlichen Welt nicht ganz so bekannt dürfte hingegen die Tatsache sein, dass sich die Mullahs nicht nur vor unbedeckten weiblichen Häuptern, sondern auch vor weiblichen Stimmen höllisch fürchten. So ist es Iranerinnen aufs Schärfste untersagt, als Solo-Sängerinnen öffentlich aufzutreten. Warum? Weil eine singende Frau wegen bestimmter Frequenzen und Tonschwankungen die Männer ganz wuschig macht. Behauptet zumindest ein geistlicher Gelehrter gegenüber der Komponistin Sara Najafi, die in dem 2014 veröffentlichten Film „No Land’s Song“ (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=N4U8TPSz0K8) das Undenkbare versucht: Ein Konzert mit Gesangssolistinnen in Teheran zu organisieren. Einem ähnlichen Ansatz ist auch die 2019 entstandene Dokumentation „The Female Voice of Iran“ (https://www.youtube.com/watch?v=sQD3Mav3vas) verpflichtet, für die der Berliner Filmemacher Andreas Rochholl 14 iranische Sängerinnen, darunter die 97-jährige Masoomeh Gorginpour oder die mit Jazzelementen arbeitende Vokalistin Mahya Hamedi, vor die Kamera holte. Trotz des etwas esoterischen Ansatzes – eine märchenhafte Figur in der Form eines kleinen goldenen Kamels ruft die Frauen dazu auf, sich zum Singen in einem Garten in Isfahan zu treffen – macht der Film klar: Die Stimmen der iranischen Frauen sind zu stark, schön und vielfältig, als dass man sie für immer zum Schweigen bringen könnte.

Im hochherrschaftlichen Rheinhotel Dreesen in Bonn-Bad Godesberg erinnert man sich nicht ganz so gerne an die 1940er Jahre – was an einem viel zu häufigen Gast namens Adolf Hitler und seinen Schergen liegen dürfte. Ein Umstand, den der ARD-Zweiteiler „Das Weiße Haus am Rhein“ (https://www.daserste.de/unterhaltung/film/das-weisse-haus-am-rhein/videos/das-weisse-haus-am-rhein-1-video-100.html) recht plakativ ausschlachtet. Klar ist: Die seifenoprige Produktion kann dem verzweifelt nachgeeiferten „Babylon Berlin“ nicht das Rheinwasser reichen. Dennoch ist sie dem Fake-Swing-Vorbild in wenigstens einem Punkt voraus. Sie zeigt, wie der Jazz nach Deutschland kam. Und zwar in der Gestalt eines französischen Sergeants aus dem Senegal, der am Rheinufer sitzend gedankenverloren Trompete spielt. Von ihm lernt der (fiktive) Hotelerbe Emil Dreesen, wie man auf der Klarinette improvisiert – und daraus ein Geschäft macht. Gegen die Widerstände der ultrakonservativen Eltern eröffnet der Sohnemann einen Musikpavillon im Hotel-Biergarten mit den Worten: „Bitte begrüßen Sie mit mir direkt aus London: den Jazz!“ Hach, man kann für jede auch noch so abseitige Erwähnung des Wortes Jazz im Unterhaltungsprogramm der ARD nur dankbar sein!