Megaphon
Von Jan Kobrzinowski
Starke Musik mit deutlichen Aussagen schwappt zu uns herüber aus einem Land, das unter Zerrissenheit und ungewisser Zukunft leidet. Ein Land, in dem zwar das Leben irgendwie weitergeht wie überall, aber niemand genau zu wissen scheint, wohin. Auf der anderen Seite: Mit welcher Leichtigkeit verbinden Künstler*innen aus den USA gesellschaftliche Relevanz, Tiefe, Spiritualität mit gehaltvoller Musik. Zwei Beispiele: Das Kollektiv Black Lives arbeitet überwiegend in Europa, seine Mitglieder stammen aber hauptsächlich aus dem afroamerikanischen Umfeld. Der vokale Output auf People of Earth steht in der Tradition moderner Spoken-Word-Kunst, deren Lyrics und gesprochene Wortsalven fest in hochaktuelle Musik eingebettet sind. Auch Meshell Ndegeocello kommt nach jahrelanger Arbeit mit einem inhaltlich wie musikalisch großartig ausgearbeiteten Album zum Werk von James Baldwin heraus, mit Fokus auf das geschriebene und gesprochene Wort.
Ein weiteres Beispiel: Die (anglo)amerikanische Folkmusik besitzt immer noch Schlagkraft und ästhetische Wucht. Rhiannon Giddens weist auf ihrem Gebiet mit politisch und musikalisch relevanten Ergebnissen weit über ihr Genre hinaus, einfach, weil sie es kann. Was macht eigentlich die in dieser Hinsicht anspruchsvolle aktuelle Musik in diesem Lande? Tut man sich immer noch schwer mit „politischer Musik“ – aus Angst vor Pathos und Bierernst? German Angst? Es kann eine echte Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass sich der notwendige Diskurs zur Erhaltung bzw. zum Aufbau einer vielfältigen Gesellschaft, in der echte Dialoge geführt und auch schärfere Auseinandersetzungen ausgehalten werden, auch in der Musik äußert. Zum Beispiel in einer, die Dissonanzen hörbar macht und künstlerisch an diesen weiterarbeitet.
JAZZTHETIK präsentiert
Das Weltmusikfestival Murnau 2024 grenzenlos bietet unter dem Motto „vivat!“ große Vielfalt, von Filmmusik über brasilianisch-romaneske Gitarrenvirtuosen, orientalische Oud-Fantasien bis hin zu kraftvollen musikalischen Bildern aus den zerrissensten Regionen unserer Welt, der Ukraine und Israel. Es wird unterstützt durch die Gemeinde Murnau, den Bezirk Oberbayern und die Jazzfestivalförderung des Bayerischen Musikrates. Highlights: Rabih Abou-Khalil, Vadim Neselovskyi und Nitai Hershkovits. Line-up siehe Festivals.
www.weltmusikfestival-grenzenlos.de
Für sein hybrides Vermittlungsprojekt „Arabischsprachiges Lied. Maqam“ hat der Pierre-Boulez-Saal in Berlin den mit 50.000 € dotierten Deutschen Preis für kulturelle Bildung „KULTURLICHTER“ 2023/24 erhalten. Die Berliner Institution will auch weiterhin mit internationaler Musik die Verbindungen zwischen Menschen bereichern und für Diversität der in Deutschland zusammenlebenden Kulturen einstehen.
Seit 2002 gibt es einen Deutschen Weltmusikpreis, und der hört auf den prägnanten Namen RUTH. Seitdem wird er jedes Jahr am ersten Juliwochenende während des Rudolstadt-Festivals vergeben. In diesem Jahr geht er an Silent Tears – The Last Yiddish Tango, ein Projekt mit vertonten Gedichten von Frauen aus Osteuropa, die den Holocaust überlebt haben. „Silent Tears ist Mahnung und Hoffnung zugleich und ein beeindruckendes Zeugnis jüdischer Kultur sowie deutscher Vergangenheit und Schuld.“ Das sagt Bernhard Hanneken, künstlerischer Leiter des Festivals. Genau diesen lobte Ministerpräsident Bodo Ramelow nun kürzlich dafür, dass er das Festival mit Folk- und Weltmusik zu einem internationalen Aushängeschild für Thüringen gemacht habe, und dekorierte den Festivalchef in Weimar mit dem Bundesverdienstkreuz.
Apropos Orden: Auch Götz Alsmann kann seinem Professorentitel nun ein Bundesverdienstkreuz hinzufügen. Ihn und elf weitere ausgezeichnete Vertreter*innen des Kulturlebens würdigte Kulturstaatsministerin Claudia Roth als „Vorbilder für die Menschen in unserem Land – vor allem für die Kreativen, die so viel in ihre Leidenschaft investieren.“

© Hans Kumpf
Wie so viele talentierte skandinavische Jazzmusiker spielte auch Paul „Palle“ Danielsson schon in jungen Jahren mit großen US-amerikanischen Jazzmusikern, die auf Tour in den europäischen Norden kamen. Kein Geringerer als Bill Evans engagierte den damals 19-jährigen Bassisten vom Fleck weg für seine Gigs im Stockholmer Golden Circle. In den 1970er Jahren gründete Danielsson mit Bobo Stenson die Gruppe Rena Rama und setzte Zeichen für eine eigenständige nordische Jazzquartett-Moderne. Endgültig ins internationale Rampenlicht rückte ihn dann seine Beteiligung an Keith Jarretts europäischem Quartett mit Jan Garbarek und Jon Christensen. Danielsson arbeitete in internationalen Formationen mit Kenny Wheeler, Charles Lloyd, Enrico Rava, Michel Petrucciani, Tomasz Stańko und vielen anderen. Die Jazzwelt wird seine bodenständige Art, seinen großen Ton auf dem Kontrabass und seine einfühlsame Musikalität vermissen, denn am 18. Mai starb Palle Danielsson im Alter von 77 Jahren.
Die Bezau Beatz 2024 finden vom 8.-11.8. im Bregenzerwälder Örtchen Bezau statt. Das Festival lebt vom scheinbaren Widerspruch zwischen rustikalstem Ambiente und abgefahrener improvisierter Musik, für deren Auswahl Schlagzeuger und Festivalchef Alfred Vogel sowie sein Kompagnon Valentin Schuster zuständig sind. Highlights sind diesmal Bob Moses und Hamid Drake, das komplette (Schlagzeug-lastige) Line-up findet sich in unserem Live-Teil unter Festivals.
Bei der hr-Bigband ging im Juni eine Ära zu Ende: Jim McNeely, bis 2024 Chefdirigent, Artist und Composer in Residence, nahm nach 16 Jahren Abschied. Der 75-jährige Grammy-Gewinner und zwölffach Nominierte hat die Bigband während seiner Amtszeit auf ein neues musikalisches Level gehoben. McNeely begann seine Karriere als Pianist mit Chet Baker, Stan Getz, Phil Woods, David Liebman, Bob Brookmeyer, Joe Henderson u.a. und komponierte und arrangierte für das Danish Radio Jazz Orchestra, Metropole Orkest, die WDR Big Band und das Stockholm Jazz Orchestra.

© Heike Müller
Das Kulturzentrum Immanuel in Wuppertal veranstaltet im August und im Oktober unter dem Titel „Immanuel Goes Bigband 2024“ Workshops und eine Masterclass. Junge Bigband-begeisterte Menschen sollen bei ihrer musikalischen Karriere unterstützt werden. Konzerte gibt es auch, und zwar mit dem Fuchsthone und dem Wolfgang Schmidtke Orchestra, dem JugendJazzOrchestra NRW und der WDR Big Band. Dafür, dass Immanuel auch in Zukunft ein Ort für regelmäßige Bigband-Konzerte und -Workshops sein kann, wünscht man sich finanzielle Unterstützung.
In Vorstand und Geschäftsführung der Deutschen Jazzunion (DJU) gab es zwei Wechsel: Die Kulturmanagerin Camille Buscot übernimmt die Geschäftsführung von Urs Johnen, und der Schlagzeuger Michael Griener löst Nikolaus Neuser im Vorstand ab.

© Sebastian Autenrieth
Zum nunmehr dritten Mal stand im Mai in Hildesheim die Verleihung des mit 10.000 € dotierten HI Five Jazz Award an. Er geht in diesem Jahr je zur Hälfte an das Rebecca Trescher Tentett und das Rainer Böhm Sextet. Ausgerichtet wird der Preis vom Rotary Club Hildesheim.
Die International Songwriting Competition (ISC) gab ihre Sieger*innen in der Kategorie Jazz für das Jahr 2023 bekannt: Erster wurde Brownman Ali mit „Wisdom of Aurelius“, Zweiter Remy Le Boeuf mit „New Beginnings“ und Dritter der Saxofonist Tobias Hoffmann mit „Defeat & Surrender“.
www.songwritingcompetition.com
J

© Oliver Hochkeppel
Ein Höhepunkt auf Münchens einzigem Jazzfestival, dem Jazz Sommer, Ausgabe 2024, im Bayerischen Hof vom 16.-20.7. ist Al Di Meola mit seinem Electric Quintet. Des Weiteren spielen Jacques Schwarz-Bart mit Malika Tirolien, China Moses in Klavierbegleitung, Kennedy Administration mit Latoya Kennedy. Zum Abschluss gibt das Munich Special „Loud & Proud“ mit Matthias Bublath, Peter Cudek und Christian Lettner dem Festival seinen Namen. Termine siehe Festivals.
www.bayerischerhof.de
Dass die Sängerin Veronika Harcsa ein Multitalent ist, zeigt sie nicht nur in ihrem Duo mit dem Gitarristen Gyémánt Bálint, sie hat sich auch mit interaktiven Konzertprogrammen mit klassischen Musikern und im Bereich Musiktherapie hervorgetan. Das ungarische Bartók Rádió verlieh ihr nun einen Preis als „Sängerin des Jahres“.

© Martin Pudenz
Iiro Rantalas komische Oper in zwei Akten, Sanatorio Express, spielt in einem skurrilen Sanatorium, wo ein heilender Scharlatan sein Unwesen treibt. Die „typisch finnische“ Geschichte wird im Juli an verschiedenen Orten vom Orchester der Kammeroper Frankfurt uraufgeführt. 100 Studierende erhalten kostenfreien Eintritt, wenn sie sich per E-Mail unter pudenz@kammeroper-frankfurt.de anmelden.
Philippe Ochem, Festivalchef von Jazzdor Strasbourg-Berlin-Dresden, kündigt nach 35 Jahren Tätigkeit für August 2025 seinen Rückzug an und macht jetzt schon mit einem Aufruf Platz für neue Bewerber*innen: „Wer sich in den Werten erkennt, die Jazzdor seit all den Jahren verteidigt, der zögere nicht und kandidiere!“
Die Jury der Jazz Journalists Association (JJA) hat ihre Performance & Recordings Awards 2024 erwartungsgemäß an große Namen vergeben. Darunter sind Jack DeJohnette, Christian McBride, das Sun Ra Arkestra, Ambrose Akinmusire, Joshua Redman, Branford Marsalis, Herbie Hancock, esperanza spalding u.v.a.
www.jjajazzawards.org/the-winners/
Ed Mann, langjähriger Perkussionist und Sound-Designer bei Frank Zappa, ist tot. Von 1977 bis 1988 prägte Mann den Sound von Zappas Alben live und im Studio. Er trat auch als Sessionmusiker und Filmkomponist in Erscheinung und veröffentlichte eine Reihe von Aufnahmen als Bandleader und Komponist. Ed Mann starb am 1. Juni im Alter von 70 Jahren.
Er fiel aus allen Wolken: Der Komponist, Pädagoge und Schlagzeuger Tyshawn Sorey war Finalist für den Pulitzer-Preis für Musik 2024 und erhielt nun die prestigeträchtige Auszeichnung für seine Komposition „Adagio (for Wadada Leo Smith)“. „Ich sitze immer noch hier und bin schockiert. Ich hatte keine Ahnung, dass dies überhaupt in Betracht gezogen wurde.“ Der 43-jährige Sorey ist ein Kreativposten sowohl in improvisierter als auch neuer klassischer Musik.
Selten genug ist es, dass Jazzmusiker annähernd 100 Jahre alt werden. Einer hätte es fast geschafft: Willis Leonard „Bill“ Holman, Saxofonist und Arrangeur in Bands und Orchestern des West Coast Jazz, starb am 6. Mai im Alter von 96 Jahren. Er spielte u.a. mit Stan Kenton, Shelly Manne, Mel Lewis und arbeitete zusammen mit vielen Vokalist*innen, darunter Ella Fitzgerald, Anita O’Day, Sarah Vaughan, Tony Bennett, Carmen McRae, Judy Garland, Mel Tormé und Michael Bublé.
20. Bundesbegegnung Jugend jazzt: Die Jury zeichnete das Linus Rebmann Trio aus Baden-Württemberg mit dem Studiopreis des Deutschlandfunks aus. Gerade mal zwischen 17 und 18 sind Linus Rebmann (p), Johann „Johnny“ Walker (dr) und Gabriel Widmaier (b). Die drei werden nun im Studio des DLF in Köln eine CD produzieren.
www.jugendjazzt.eu/jugend-jazzt-2024/preistraegerinnen
Auf die 2. Bestenliste 2024 des Preises der deutschen Schallplattenkritik schafften es im Bereich Jazz das Yes! Trio (Ali Jackson, Aaron Goldberg und Omer Avital) mit Spring Sings sowie Vijay Iyer, Linda May Han Oh und Tyshawn Sorey mit Compassion. In der Kategorie Grenzgänge gewannen Adam Bałdych & Leszek Możdżer mit Passacaglia, die Liste in der Kategorie Weltmusik führt die Fado-Sängerin Lina mit Fado Camões an, in Sachen Electronic / Experimental landete Jan Bang mit Reading the Air einen Erfolg.
www.schallplattenkritik.de/bestenlisten/2024/02
Zwar wurde der Begriff „Third Stream“ in der Musik in den 1950er Jahren von Gunther Schuller und George Russell aus der Taufe gehoben, um die Fusion von klassischer Musik und Jazz zu beschrieben. Vorbereitet aber wurde dieser dritte Weg der Musik schon wesentlich früher von George Gershwin. 2024 jährt sich zum hundertsten Mal die Uraufführung seiner „Rhapsody in Blue“. Kurze Zeit später arbeitete Gershwin bereits an seinem ausgereifteren „Concerto in F“. Der Dirigent Wayne Marshall ist ab Juli auf Europa-Tour, hierzulande wird er mit dem WDR-Funkhausorchester Gershwin-Werke aufführen (24.9. Konzerthaus Dortmund).
David Sanborn machte mit seinem unverwechselbaren Sound das Altsaxofon zur Ikone der instrumentalen Begleitung in der Popmusik und wurde so zu einem der erfolgreichsten Saxofonisten der Musikgeschichte. Kurioserweise begann Sanborn seine Karriere auf ärztlichen Rat: Als kleiner Junge an Kinderlähmung erkrankt, wurde dem Elfjährigen zur Unterstützung seiner schwachen Brustmuskulatur empfohlen, Saxofon zu spielen. Die Paul Butterfield Blues Band und Stevie Wonder gehörten in den 1970ern zu seinen ersten Stationen. Neben zahllosen Engagements für die Granden der Popmusik, darunter Eric Clapton, Al Jarreau, die Rolling Stones, Steely Dan, Sting, Paul Simon, David Bowie, Roger Waters und sogar Nena, spielte Sanborn auch mit Gil Evans und Miles Davis. Für seine Soloalben lud er sich gerne Jazzgrößen wie Jack DeJohnette, Ron Carter, Bill Frisell, Charlie Haden, Wallace Roney, Kenny Barron und Christian McBride ein. Am 12. Mai ist David Sanborn im Alter von 78 Jahren gestorben.
Die vom Aus bedrohten Jazztage Dresden sind vorerst gerettet, zumindest für 2024. Mithilfe eines Benefizkonzertes im Dresdner Kulturpalast wurde ein Spendenziel erreicht, das dem traditionsreichen Festival erst einmal das Überleben sichert. Wesentlich kleiner wird es 2024 ausfallen, man arbeite aber daran, für 2025 ausreichend öffentliche Förderung und finanzkräftige Partner zur Finanzierung einer würdigen Jubiläumsausgabe zu bekommen.
Die Macht der Musik ist immer noch weitgehend unerforscht. Es gibt ernstzunehmende Ergebnisse, aber auch belanglosere. Nun ergab eine Studie, dass das Hören von Musik sich vorteilhaft für Menschen erweisen könnte, die zu „emotionalem Essen“ neigen. Es wird behauptet, dass bestimmte Musikgenres bestimmte Fress-Neigungen mildern könnten. Nun denn, liebe Leser*innen, entscheiden Sie selbst: Ist in diesem Heft des Jazzmagazins Ihres Vertrauens etwas dabei für Ihre diesbezügliche persönliche Playlist zur Optimierung des Essverhaltens?