Binge-Jazz, Folge 4 (Juni 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Ich weiß jetzt übrigens, was ich sein will, wenn ich groß bin: Charles Lloyd. Zu diesem Schluss kam ich, als ich mir den Film „Love Longing Loss – At Home with Charles Lloyd During a Year of the Plague“ anschaute. Diese vollkommene innere Ruhe, gepaart mit Wachheit und Ehrlichkeit („Ich bin von Natur aus faul und grübele viel, bevor etwas herauskommt“), diese kindliche Freude in den Augen, wenn er beim Schattenspiel im Schlafzimmer Quatsch macht – beneidenswert! Gedreht wurde „Love Longing Loss“ von Lloyds Ehefrau Dorothy Darr, die auch schon die viel gepriesene Saxofonisten-Vita „Charles Lloyd: Arrows Into Infinity“ (als Stream auf iTunes) verantwortet hat. Im Auftrag des Berliner Pierre-Boulez-Saals, in dem der Gatte im Dezember 2020 eigentlich hätte auftreten sollen, begleitete sie den Musiker für eine einstündige Mischung aus Dokumentation und künstlerischer Meditation während des Lockdowns im kalifornischen Eigenheim mit der Kamera. Man sieht und hört Charles Lloyd sinnieren und musizieren, gewandet im Morgenmantel oder in praktischer Funktionskleidung. Mal sitzt er am Wohnzimmer-Klavier, an der Wand gerahmte Fotografien mit Michel Petrucciani oder Billy Higgins als gute Hausgeister, mal steht er im Flur mit seinem Tenorsaxofon, mal vor einer Leinwand mit Rasseln oder Tarogato. „Ich spüre eine Leere“, beschreibt der Weise aus den Hügeln von Santa Barbara den eigentümlichen Seelenzustand während der Corona-Abschottung, „aber sie ist gleichzeitig immer erfüllt von Sphärenmusik.“ Er lässt die Zuschauer teilhaben an diesen inneren Klängen; dabei ringt und tanzt er beständig mit der Vergangenheit. Am eindrücklichsten geschieht das, wenn der inzwischen 83-Jährige mit seinem Quartett „Lift Every Voice and Sing“ interpretiert und Darr dazu einen historischen Bilderreigen von der Sklaverei bis zu George Floyd montiert. Besonders rührt, dass Lloyd auf einen Ton der Anklage verzichtet und stattdessen stets mit Sanftmut agiert. Wie er spielt, so spricht er auch. So klar, organisch und archaisch wie das Wasser, das als visuelles Leitmotiv in „Love Longing Loss“ fungiert. „Das habe ich mein ganzes Leben getan. Ich schwimme davon. Mit meinen Geschichten und meinen Vorfahren“, erzählt Charles Lloyd. Bis 11. Juni ist der Film auf der Seite des Pierre-Boulez-Saals zu sehen (https://boulezsaal.de/charles-lloyd-love-longing-loss).

Nun zu etwas komplett anderem. Schon gewusst, dass Chet Baker 1960 für den späteren Zombiefilm-Spezialisten Lucio Fulci gemeinsam mit dem jungen Adriano Celentano vor der Kamera stand (beziehungsweise in der Badewanne lag)? Oder dass Miles‘ Trompetenspiel bei der „Birth of the Cool“-Session im französischen Erotikdrama „Lolita ’90“ mit einem Staubsauger verglichen wird, von dessen Geröchele man Kopfschmerzen bekommt? Nein? Dann sollte man sich unbedingt die Reihe „Jazz im Film“ im Online-Auftritt von Arte anschauen. Der französische Filmkenner Thierry Jousse, unter anderem ehemaliger Chefredakteur der ehrwürdigen „Cahiers du Cinema“, zeigt dort in 12-minütigen Kompilationen, welche Spuren Größen wie Louis Armstrong, Chet Baker oder Miles Davis auf der Leinwand hinterlassen haben. Im Falle von Satchmo spannt Jousse, der die mitunter sehr persönliche Auswahl der Filmszenen aus dem Off kommentiert, den Bogen von Armstrongs Auftritt in der Komödie „Künstlerball“ von 1937 bis hin zu dem effektvollen Einsatz seiner Songs in diversen Kinowerken. Vor allem Satchmos „Wonderful World“ wurde und wird gerne als heftiges Kontrastmittel eingesetzt, so etwa in „Good Morning, Vietnam“ als Hintergrundmusik für Bombardements und Exekutionen (https://www.arte.tv/de/videos/100210-017-A/blow-up-jazz-im-film-louis-armstrong/). Im Falle von Chet Baker (https://www.arte.tv/de/videos/100210-019-A/blow-up-jazz-im-film-chet-baker/) erinnert Jousse daran, dass der gefallene Trompeten-Engel nicht nur für zahlreiche italienische und französische Produktionen seelenvoll in sein Horn blies, sondern auch die Musik für eine James-Dean-Dokumentation beisteuerte (der „James Dean des Jazz“ war dafür natürlich keine gänzlich abwegige Wahl). Es brummt einem angesichts der Vielzahl der in schnellem Tempo vorgebrachten Film-Zitate zwar irgendwann staubsaugermäßig der Schädel, dennoch sollte man Jousse für seine Fleißarbeit danken: Sei es, weil man daran erinnert wird, sich endlich mal „Dingo“ anzuschauen, in dem ein freundlich aus seinen massiven Schulterpolstern herauskrächzender Miles Davis seinen letzten Filmauftritt hatte (https://www.arte.tv/de/videos/100210-026-A/blow-up-jazz-im-film-miles-davis/). Oder weil man bei der nächsten Cocktailparty zungenschnalzend bescheidwisserisch von der Erotik der Trompetentöne schwärmen kann, die Chet Baker zu den Werken José Bénazérafs, des französischen Antonioni, beisteuerte.

Wo wir schon bei unbedingt überlebenswichtigem, sonst aber völlig überflüssigem Detail-Wissen sind: Vor 25 Jahren erschien „High Fidelity“ auf Deutsch, jenes Buch, mit dem Nick Hornby den Musik-Nerd zum neuen Helden der Mainstream-Kultur werden ließ. Und dann ging es los: Alles musste plötzlich Pop sein, die Literatur, die Kunst, sogar der Jazz. Oh, was für herrlich unbeschwerte Zeiten waren das damals; wie ernst, dünnhäutig und unverspielt doof ist dagegen doch die Gegenwart! So etwas in der Art könnte man jetzt asthmatisch seufzen wie ein alter weißer Mann. Wenn es da nicht eine Serie wie „High Fidelity“ gäbe, die auf Hornbys Bestseller basiert, und zeigt, dass das heute noch geht: Gleichzeitig woke und nostalgisch, dem Zeitgeist verpflichtet und dennoch selbstironisch zu sein. Die von Veronica West und Sarah Kucserka für Hulu entwickelte Serien-Adaption (im Programm von Starzplay) nimmt sich gewisse Freiheiten gegenüber dem Original heraus: So ist der Plattenladen des Protagonisten Rob nicht mehr in London, sondern in New York beheimatet; die Kundschaft muss nicht mehr nur wegen ihres fragwürdigen Musikgeschmacks zurechtgewiesen werden, sondern auch, weil sie blöde Selfies macht. Und, ach so, Rob ist kein Mann mehr, sondern eine Frau. Gespielt wird sie von Zoé Kravitz, was auch deshalb eine elegante Verbeugung vor der Vergangenheit ist, weil ihre Mutter Lisa Bonet im Jahr 2000 in der Kino-Version von „High Fidelity“ mitwirkte. Das alles funktioniert erstaunlich gut – die Selbstzerknirschtheit, mit der Kravitz in auf halb acht hängenden Slacker-Klamotten über ihr bisexuelles Liebesleben und ihre Top-5-Listen referiert (wobei auch plötzlich mal die leibhaftige Debbie Harry durchs Bild tanzen kann), der Raum, der ihrem schwulen Ex-Freund und Plattenladen-Mitarbeiter Simon eingeräumt wird. Warum das nicht wie eine mühsame Modernisierung wirkt? Weil Liebeskummer Liebeskummer bleibt, ob analog oder digital, straight oder allo- , sapio- bzw. pansexuell. Außerdem wäre da noch die verbindende Kraft des Vinyls. Ich empfehle Folge 5, in der sich Rob – unterlegt von Sonny Rollins‘ „Moving Out“ – weigert, eine unfasslich erlesene Plattensammlung für einen Witzpreis von 20 Dollar aufzukaufen. Der Besitzer, dessen Ex-Gattin sich mit dem Verscherbel-Verkauf an ihm rächen will, mag zwar ein frauenverachtendes Arschloch sein. Aber die Musik rettete ihm das Leben. Genauso, wie es bei Rob der Fall war. Und sowieso bei allen, die Musik lieben. Wir irren Nerds und Nerdinnen müssen zusammenhalten!

Wo wir gerade bei Nick Hornby sind: In der von Stephen Frears inszenierten Mini-Serie „State of the Union“ (abrufbar in der ARD-Mediathek unter: https://www.ardmediathek.de/sendung/state-of-the-union/staffel-1/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3N0YXRlLW9mLXRoZS11bmlvbg/1/), die auf Hornbys Stück „Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst: Eine Ehe in zehn Sitzungen“ basiert, ist der Jazz eine interessante Chiffre für Versagen und Impotenz. Das legt zumindest die Folge 7, „Call the Midwife“, nahe, in der ein aufschlussreicher Grund für die Eheprobleme der beiden Protagonisten (gespielt von Rosamunde Pike und Chris O’Dowd) erwähnt wird: Der Gatte bekommt es seit Jahren einfach nicht hin, eine Biographie über Horace Silver zu schreiben. Er müsse dafür erst die Kapverdischen Inseln besuchen, weil Silvers Vater von dort stammte, ist seine Ausflucht. Um dann festzustellen: Die Reise dorthin wäre bei Weitem teurer als das, was er an dem Buch verdienen würde. Weil nämlich niemand mehr Musikjournalisten brauche, eine Profession, die ungefähr so zukunftsträchtig wie die Arbeit als Bergmann sei. Traurig. Aber genug gejammert. Ich muss jetzt wieder unter Tage.