Binge Jazz, Folge 5 (Juli 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Hat sich mal jemand gefragt, woher die ganze Lässigkeit und unglaubliche Virtuosität im Jazz stammt? Ist doch klar: vom Kiffen! Zu diesem Schluss kann man jedenfalls kommen, wenn man sich die Netflix-Dokumentation „Grass Is Greener“ anschaut. Da erzählt etwa Steve Hager, Ex-Chefredakteur des Kiffer-Fachblatts „High Times“, welche Vorteile der Cannabis-Genuss den Jazz-Begründern verschaffte: „Wenn man high war, wurde die Musik etwas langsamer. Und man hatte beim Improvisieren den Flow. Louis Armstrong, die wichtigste Figur in der Entwicklung des Jazz, fing früh damit an, Gras zu rauchen. Er rauchte es an jedem Tag seines Lebens.“

Hager steht mit seiner Meinung nicht allein da. Charlie Gabriel, 88-jähriges Sax- und Klarinetten-Urgestein der Preservation Hall Jazz Band, ist sich sicher, dass man unter dem Einfluss von Marihuana besser zu spielen vermag als andere („Fats Waller, Duke Ellington und die alle. Es hilft einem, sehr kreativ zu sein“), während Snoop Dogg glaubt, dass Gras den Jazzern half, „ihren Groove zu finden und die klassischste, zeitloseste Musik zu erschaffen. Mit Cannabis kann man das Beste aus sich herausholen.“

Ich will es mal vorsichtig formulieren: „Grass Is Greener“ ist jetzt nicht unbedingt eine nüchtern-unvoreingenomme Auseinandersetzung mit dem Thema Cannabis. Ja, es gibt Stellen in dem Film von Fred Brathwaite, alias Fab 5 Freddy, erster HipHop-VJ auf MTV und nebenbei Patensohn von Max Roach, in denen mir die Verherrlichung des definitiv nicht komplett harmlosen Krauts ein wenig auf die Nerven geht. Vor allem die Thesen über eine etwaige Leistungssteigerung im musikalischen Kontext finde ich gewagt.

Allerdings ist die Dokumentation nicht in erster Linie als Werbung für den lockeren Gras-Genuss zu verstehen, sondern als Anklage – so zeigt Brathwaite, welch bittere Blüten der jahrhundertelange Kampf der USA gegen Cannabis getrieben hat. Ungeachtet anderslautender wissenschaftlicher Untersuchungen wurde Marihuana verteufelt (noch 1980 nannte Präsident Ronald Reagan Gras „die gefährlichste Droge der USA“) und offenbar gezielt zur Kriminalisierung von Minderheiten eingesetzt. Die Schriftstellerin Asha Bandele formuliert es an einer Stelle so: „Wenn Weiße koksten, bekamen sie Hilfsprogramme von den Arbeitgebern. Die Schwarzen bekamen lebenslänglich.“ Selbst die inzwischen vorgenommene Cannabis-Legalisierung in einigen US-Bundesstaaten scheint an dem alten Bild nichts zu ändern: So zeigt Brathwaite, wie schwer es Schwarze haben, geschäftlich in diesem Bereich Fuß zu fassen, der sie früher auf ewig in den Knast gebracht hätte. Die in „Grass Is Greener“ gezeigten Schicksale lassen zuweilen derartig den Hals anschwellen, dass man sich tatsächlich eine Substanz wünscht, um den Puls herunterzubekommen.

Und tatsächlich hätte ich da auch schon ein paar Vorschläge: Wie wäre es mit gebratenem Gelbflossen-Thunfisch in Sesamkruste? Oder Muscheln mit Fenchel-Sauce? Das sind jedenfalls zwei der Gerichte, welche der allseits beliebte Sänger Gregory Porter in seiner Kochsendung zubereitet, die seit neuestem auf YouTube zu sehen ist (https://www.youtube.com/playlist?list=PLf3FIuC9sLq87HsPvRIU0_bhl4_nkFTLY). In den Folgen von „The PorterHouse with Gregory Porter“ schnibbelt, rührt und sautiert der Hüne in seiner privaten Familienküche im kalifornischen Bakersfield genauso sanft und zärtlich, wie er singt. Dabei gewährt der Grammy-Gewinner, der vor seiner Sanges-Karriere sechs Jahre lang im Café seines Bruders kochte, auch kleine Einblicke ins Privatleben – hier das Borschtsch-Spezialrezept der russischen Schwiegermama, da der Sohnemann, der mit gehörig Schalk im Nacken das Essen von Papa lobt. Besonders beeindruckt mich, mit wie viel Selbstüberwindung Porter das Wort „Gewürztraminer“ ausspricht. Der arme Kerl klingt, als würde er sich dabei einen Muskelfaserriss in der Zunge zuziehen. Und offenbar hat es der Vertrag mit dem Weinproduzenten vorgesehen, dass der Sänger den Tropfen gleich mehrfach erwähnen muss. So sehr sich Gregory Porter aber auch ins Zeug legt: An meinen absoluten Lieblings-YouTube-Küchenmeister kommt er nicht heran – den „Vegan Black Metal Chef“ mit seinen gegrunzten Rezepten. Ich sage nur: Hail Seitan! (https://www.youtube.com/watch?v=eovuIfeH2k4)

Natürlich gibt es einen Suchtstoff, der den Geist des Menschen noch deutlich mehr verwüstet als Cannabis, Alkohol oder Borschtsch. Der kanadische Filmemacher Alan Zweig hat ihm eine knapp zweistündige Dokumentation gewidmet, auf die mich ein Betroffener brachte (danke, Jens!). Der Name der Droge und des Films: Vinyl (https://www.youtube.com/watch?v=nkCMSrvOTAo). Zweig besuchte um die Jahrtausendwende herum Plattensammler in ihren mehr oder weniger begehbaren Wohnungen, um sich mit ihnen über ihren Fetisch zu unterhalten. Der eine hortet alles von Jack Teagarden und weiß wie ein extrem gut durchorganisierter Stalker, was der Posaunist und Sänger an jedem einzelnen Tag seines beruflichen Lebens getrieben hat. Die andere hält mit wohligem Grusel eine Platte von Heino in die Höhe – in kanadischen Vinyljunkie-Kreisen scheint das ein ähnlich bizarres Fundstück wie die Platte „Sado-Maso-Disco“ zu sein, die gleich mehrfach stolz präsentiert wird. Das alles könnte leicht zu einer unglaublichen Freak-Show ausarten. Wird aber dank Zweigs gleichermaßen einfühlsamer wie schonungsloser Fragetechnik zu einem Psychogramm der kollektiven Sammlerseele. Vor allem mit sich selbst geht der Regisseur gnadenlos ins Gericht. In Selbstgesprächen vor dem Spiegel, einem wiederkehrenden Stilmittel in seinen Filmen, setzt er sich brutal ehrlich mit seinem Leben, seinen unerfüllten Wünschen und seinem Musikgeschmack auseinander. Dabei ist einer der besten Filme herausgekommen, die jemals zum Thema Sucht und Sehnsucht gedreht wurde. Für Freundinnen und Freunde der improvisierten oder leichten Musik hält „Vinyl“ allerdings eine verstörende Lektion bereit: Mäuse nisten sich gerne hinter Jazz- oder Easy-Listening-Platten ein.

Kindern, die ihre Binge-Besessenheit zur Abwechslung mal nicht mit „Paw Patrol“, „Peppa Wutz“ oder „Breaking Bad“ stillen wollen, sei die Netflix-Serie „Meine Stadt der Geister“ empfohlen. Eine Gruppe von Kids spürt da mit detektivischem Geschick den Geistern der Vergangenheit nach, die sich im Los Angeles der Gegenwart verstecken. In der dritten Folge verschlägt es die Gespensterjäger nach Leimert Park in ein veganes Café, wo sich die Espressomaschine wirklich merkwürdig verhält. Wer da spukt? Der Geist eines Jazzdrummers, der sich in Anspielung auf Art Blakey „Jam Messenger Divine“ nennt. Von ihm lernen die Kinder viel über den Flow, Spiritualität und kreative Freiheiten. Zwar wird hier nicht ganz trennscharf zwischen Jazz und Rap unterschieden, dennoch ist „Meine Stadt der Geister“ lehrreich: Spielerisch erfährt der Nachwuchs in der Serie mit ihrem ganz eigenen Animationsstil einiges über Gentrifizierung und die Wichtigkeit des Genius loci. Dadurch, dass die Figuren oft von echten Locals gesprochen werden, vermittelt sich eine beinahe dokumentarische Ehrlichkeit und Echtheit. Noch besser wäre es freilich, wenn man die Endgeräte ausschaltet. Und sich selbst auf die Jagd nach den Geistern des eigenen Viertels begibt. Keine Macht dem Drögen!