Binge-Jazz, Folge 7 (September 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Schon mal auf Netflix das Wort „Jazz“ als Suchbegriff eingegeben und sich dann erstaunt die Augen gerieben? Als erstes Ergebnis erscheint da nämlich ein Film namens „Jazzgossen“ (nicht „Jazzgrößen“, wie ich zuerst las). Dieser handelt laut Beschreibung von einem Jungunternehmer, der „ein schillerndes Jazz-Imperium erschaffen hat“. Nun, da ich für jedes Netflix-Erzeugnis offen bin, in dem es nicht um Serienkiller geht, habe ich mal reingeschaut. Bei dem 1958 entstandenen Werk handelt es sich um den Versuch der schwedischen Filmindustrie, es mit den US-Musikrevuen von MGM & Co. aufzunehmen. Es gibt also einige schmissige Songs, aufwendige Kostüme und überhaupt viel Bühnenzauber. Jazz im engeren Sinne sucht man vergebens, dafür ist so etwas wie eine Handlung erkennbar: „Jazzgossen“, was übrigens so viel wie „Jazzjunge“ bedeutet, begleitet den cleveren Geschäftsmann Teddy Anker (Hasse Ekman) durch die wechselhafte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zum Tiefpunkt des Zweiten Weltkriegs. In den 1920ern eröffnet er einen Nachtclub, um sich nach und nach in eine Art Tycoon zu verwandeln, der gemeinsam mit seiner singenden und tanzenden Frau Karin (Maj-Britt Nilsson) u.a. den ersten Tonfilm Schwedens produziert. Wer jetzt aber unbeschwerte sonnige Unterhaltung erwartet, hat seine Rechnung nicht mit der schwermütigen nordischen Seele gemacht. „Jazzgossen“ ist nämlich oft deutlich mehr Ingmar Bergman als „Singing in the Rain“, was auch an der Rolle des traurigen Kommunisten Erik liegt, der gerne Gedichte über Friedhöfe verfasst und leider auch vorträgt. Gespielt wird er übrigens von Bengt Ekerot, den Freunde von durchgeknallten Komödien in der Rolle des Todes aus Bergmans „Das siebente Siegel“ kennen. Für Filmhistoriker und alle, die eine gute Depression zu schätzen wissen, dürfte „Jazzgossen“ sicherlich eine interessante Entdeckung sein. Alle anderen sollten bei Netflix noch ein bisschen weitersuchen.

Aber es ist ja nicht alles trüb und trist im Norden. Beim Herumstöbern in einem eher entlegenen Teil des Netzes außerhalb von Netflix stieß ich neulich auf eine Dokumentation über Niels-Henning Ørsted Pedersen, die 1992 im dänischen Fernsehen lief. Ich verehre den 2005 verstorbenen Bassisten ja über alle Maßen für seinen singenden Ton. Vor allem seine Interpretationen dänischer Volkslieder oder seine Kollaborationen mit Kenny Drew oder Palle Mikkelborg und Kenneth Knudsen verschaffen mir regelmäßig eine Ganzkörper-Gänsehaut, die ein Fall für den Pschyrembel ist. In der „Niels-Henning Ørsted Pedersen documentary“ (https://www.youtube.com/watch?v=al06deQAfDk) erfährt man indirekt, wie der „great Dane with the never-ending name“ seinen charakteristischen Sound entwickelte. Der schon früh für seine überragende Virtuosität bekannte NHØP befand sich nämlich in ständiger Auseinandersetzung mit den Saxofon-Meistern der leisen Töne, die er Nacht für Nacht begleitete. Mit Dexter Gordon habe er regelrecht gestritten, wie viele Töne als Balladen-Unterlegung zulässig seien, berichtet der Däne. Um dann von Ben Webster zu schwärmen, der sich mit seiner einzigartigen Fähigkeit, Melodien wie ein Sänger zu artikulieren, auf der Bühne oft selbst zu Tränen rührte. Wirklich großartig ist das Konzertmitschnitts-Material, das die Redakteure des DR für die Dokumentation zutage befördert haben. Zu sehen und hören sind unter anderem Gigs des blutjungen NHØP an der Seite von Bud Powell im Jazzhus Montmartre (die Bassisten-Mutter erlaubte dem 15-jährigen Sprössling die nächtlichen Eskapaden, weil sie fand, dass Powell „ehrliche Augen“ habe), ein fantastisch zu „St. Thomas“ aufspielender Sonny Rollins sowie der Beleg, dass Oscar Peterson ein Bandleader war, der nicht nur seinen Mitmusikern alles abverlangte: Der Pianist rast trotz eines dick bandagierten Fingers wie ein Irrer über die Tasten. Schmerzen allein schon vom Zuschauen kann man auch wegen der englischen Untertitel bekommen, mit denen ein sehr netter Mensch die dänische Doku unterlegt hat. Doch trotz der absurden Fehlerdichte („The subtitles are just extra jazz“, schreibt ein Kommentator nicht ganz zu unrecht) versteht man zum Glück fast alles, was der freundliche NHØP da so erzählt. 2021 hätte er seinen 75. Geburtstag gefeiert. Ich vermisse ihn sehr.

Who ist the World’s Greatest Bass Player?“, fragt der US-amerikanische Musiker, Studiobetreiber und YouTuber Rick Beato in einem seiner jüngsten Clips (https://www.youtube.com/watch?v=k2vqJ78VA4g). Die Antwort lautet zwar nicht NHØP, ist aber dennoch akzeptabel: Ron Carter. Beato unterhielt sich mit dem 84-Jährigen unter anderem darüber, wie die Studiotechnik die Entwicklung des Bassspiels beeinflusst hat. Früher habe man den Bass nicht für wichtig gehalten und entsprechend stiefmütterlich bei Aufnahmen behandelt, erzählt Carter per Videocall aus seiner Küche. „In dem Moment aber, als man den Bass auf Platten besser hörte, wurden auch die Bassisten besser“, ist sich der wohl am meisten aufgenommene Tieftöner der Welt sicher. Das ist nur eines der Beispiele für den Reiz, den das Anschauen von Beatos Videos ausmacht. Über einen Mangel an Themen-Auswahl kann man sich bei dem Multiinstrumentalisten, der aussieht wie der in Ehren ergraute Mitarbeiter eines Gitarrenladens für Rockabilly-Fans, nicht beklagen. Ich bin schon öfters wichtigen Verpflichtungen im Haushalt nicht nachgekommen, weil ich an einer Folge seiner Reihe „What Makes This Song Great?“ hängenblieb. Da spielt Beato dann beispielsweise jede Note von Larry Carltons umwerfender Gitarren-Ornamentik zu Steely Dans „Kid Charlemagne“ nach (https://www.youtube.com/watch?v=xKIC9zbSJoE) oder erkundigt sich bei Seal, wie um Himmelswillen er seinerzeit auf die abenteuerlichen Akkordprogressionen in „Kiss from a Rose“ kam (der Sänger wollte eigentlich nur sein brandneues Tascam-Mehrspurgerät ausprobieren und blätterte ständig in der Bedienungsanleitung, https://www.youtube.com/watch?v=Hhgoli8klLA). Eher unbefriedigend und ein wenig hingeschludert finde ich Beatos Überlegungen zur Frage, warum die dorische Kirchentonleiter so beliebt ist (https://www.youtube.com/watch?v=qLEyhW3f08k), und als richtiggehend schräg empfinde ich das Video, mit denen der gute Mann 2015 seinen YouTube-Ruhm begründete: Seinen mit dem absoluten Gehör gesegneten Sohn Dylan lässt er da jede einzelne Note von irgendwelchen irren Akkorden aufsagen. Das hat was von Zirkusattraktion und wurde auch schon Gegenstand deftiger Parodien (https://www.youtube.com/watch?v=P4fuXCBJLKc). Dennoch kann man von dem schon 3,7 Millionen mal angeschauten Clip „Perfect Pitch: The World’s Greatest Ear!!“ (https://www.youtube.com/watch?v=t3Cb1qwCUvI) durchaus etwas Gewinnbringendes lernen – in den Kommentaren stößt man auf eine beeindruckende Anzahl von Kalauern zum Thema Gehörbildung (Beispiel: „Me: Stepping on a bee. Kid: That’s a b flat!“).

Der britischen Multiinstrumentalistin, Sängerin und Produzentin Emma-Jean Thackray verdanken wir mit „Yellow“ nicht nur eines der bemerkenswertesten Debüt-Alben des Jahres, sondern auch die Erkenntnis, dass die Insel und der Kontinent sich doch nicht so weit voneinander entfernt haben, wie man angesichts der englischen Fans bei der Fußball-EM befürchten musste. Anscheinend ängstigt man sich im Königreich genauso wie in Deutschland vor einer finsteren Institution, die für ihre Grausamkeit und Willkür bekannt ist: die (Trommelwirbel, Kreischen, ängstlich bellender Hund) Jazzpolizei. Darauf lässt das Video namens „The Jazz Police“ auf Thackrays YouTube-Kanal schließen, in dem die auch humoristisch sehr talentierte Musikerin eine Szene aus der Brit-Soap „EastEnders“ neu synchronisiert hat. Sonia, die die Zuschauerinnen und Zuschauer der Serie mit einer Teenager-Schwangerschaft, tragischen Todesfällen im Bekanntenkreis und ihrem fragwürdigen Trompetenspiel eigentlich schon genug gequält hat, geschieht ein neues Missgeschick: Sie wird nach ein paar Takten „Donna Lee“ von einer Beamtin wegen unerlaubten Jazzens in der Öffentlichkeit verhaftet (https://www.youtube.com/watch?v=V4Kj-Myk5tc). So geht’s ja nun nicht – gut, dass es auch in England eine Jazzpolizei gibt!