Binge-Jazz, Folge 8 (Oktober 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Ich habe gelesen, dass jedes Jahr 35.000 Menschen auf der Welt durch Hunde sterben und nur neun durch Haie. Da stellt sich mir die Frage: Ist eventuell der Hai der beste Freund des Menschen?“ Das ist genau die Art von Sprüchen, die man nach ein paar Bier zu viel an einem jener Orte hört, die von der Pandemie besonders heftig betroffen waren und stellenweise immer noch sind: die kleinen Clubs, Jazzkneipen und Blues-Schuppen. Christian Klandts Spielfilm „Leif in Concert“ (verfügbar in der Arte-Mediathek unter https://www.arte.tv/de/videos/103950-000-A/leif-in-concert) ist eine gleichermaßen liebe- wie humorvolle Hommage an jene Institutionen mit ihren wackligen Bühnen, bierverklebten Tischen und vergilbten Duke-Ellington-Konzertplakaten an den nikotingelben Wänden, die weit mehr sind als bloße Spielstätten. Der namenlose, aber absolut prototypische Club, der in „Leif in Concert“ von der fabelhaft spielenden Luise Heyer als Barfrau Nele am Laufen gehalten wird, ist nämlich zugleich soziale Einrichtung, Versuchslabor, Therapiezimmer und Sammelbecken für verrückte Gestalten und noch verrücktere Ideen. Zuweilen mag es Klandt mit seiner prominent besetzen Typenparade (u.a. mit Bela B., Tilo Prückner, Jule Böwe oder Mark Benecke) und seinen absurden Dialogen übertreiben – das macht aber rein gar nichts. Weil er nämlich exakt jene Magie einfängt, die man so nur in den kleinen Konzertkneipen erlebt. „Leif in Concert“, das unter anderem im Berliner Jazzclub Yorckschlösschen gedreht wurde, ist eine dringend überfällige Liebeserklärung an all jene Orte um die Ecke, die Musik zum Leben erwecken – und ohne die alles nichts ist.

Geschätzte 600 Millionen Fernsehzuschauer hatte die erste Mondlandung. Auf exakt null kam hingegen ein Ereignis, das für die Community in Harlem einen weitaus größeren Stellenwert als Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Erdtrabanten hatte. Die Rede ist vom „Harlem Cultural Festival“, das im Mondlandungssommer 1969 insgesamt 300.000 Konzertgänger in den Mount Morris Park zog. Bis auf ein paar läppische Ausschnitte schaffte es die unfassbar hochkarätig besetzte Musikreihe, in deren Rahmen u.a. Sly & the Family Stone, Stevie Wonder, Nina Simone oder Max Roach auftraten, nicht ins Fernsehen, geschweige denn auf Platte. Es schien fast so, als hätte das Festival niemals stattgefunden. Dabei gab es hervorragendes Bild- und Audiomaterial. Der Filmemacher Hal Tulchin hatte sämtliche Konzerte aufgenommen, fand aber keinen TV-Sender oder Kinoverleih, der Interesse an einer Dokumentation über das „Black Woodstock“ zeigte. Knapp ein halbes Jahrhundert lang setzten die Filmrollen mit an die 50 Stunden Material in einem Keller in Bronxville Staub an; nun, vier Jahre nach dem Tod Tulchins, wurde dieser kulturelle Schatz endlich geborgen. Unter dem bezeichnenden Titel „Summer of Soul (… Or, When The Revolution Could Not Be Televised“), zu sehen auf Disney +, hat Roots-Drummer Ahmir „Questlove“ Thompson in seinem Regiedebüt aus langen Konzertmitschnitten, Interviews und zeitgeschichtlichen Dokumenten den soziokulturellen, spirituellen und musikhistorischen Geist des „Harlem Cultural Festival“ destilliert. Questlove erzählt in einer bestechenden Mischung aus politischem Bewusstsein und untrüglichem Rhythmusgefühl nicht bloß über ein fantastisches Festival mit wahnwitzig intensiven Bühnenperformances, sondern erteilt nebenbei eine Geschichtsstunde über die Macht der Medien. Das, was jahrzehntelang totgeschwiegen wurde, erhält bei ihm einen vielstimmigen Chor. An einer Stelle werden Statements zum Erwachen der Black-Power-Bewegung filmisch virtuos mit einem Drumsolo von Stevie Wonder zusammenmontiert – das ist gewissermaßen visueller HipHop. „Summer of Soul“ ist auch deshalb so großartig, weil der bittere Background der brillanten Auftritte vor einem beseelt hippen Publikum stets mitgeliefert wird. Und das nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit lässig schwingenden Drumsticks. Was bedeutet es, dass ein weißer Mann auf dem Mond ist? Die Antwort liefern zwei schwarze TV-Moderatoren in Dashikis, die Questlove in seiner meisterlichen Collage kurz zu Wort kommen lässt: „Die USA haben Kohle. Aber keine Seele.“

Was bekommt man noch auf die Reihe, wenn man vom Jetlag geplättet auf einem Hotelbett in Stuttgart liegt und nur noch schlafen will? Jede Menge. Allerdings muss man dafür schon Jaco Pastorius heißen. Und von jemand Nettem wie Pat Metheny sanft aus dem Schlummer geholt werden. Dann kann man anschließend problemlos Klassiker wie „Bright Size Life“ einspielen. Dies und noch mehr erzählt der Gitarrist und Weckdienst in einem extensiven Gespräch mit Rick Beato (Ältere werden sich daran erinnern, dass der Kerl Thema in der September-Ausgabe von Binge-Jazz war), das ich nicht nur Metheny-Fans ans Herz legen möchte. Denn in „The Pat Metheny Interview“ (https://www.youtube.com/watch?v=QEgalcH_-b4) geht es eben nicht nur um Dönekes zu einzelnen Aufnahmen des sympathischen Wuschelkopfs aus Missouri, sondern auch um ganz Grundsätzliches. Etwa um das Wesen von Melodien, die laut Metheny ein wenig abfällig als Synonym für „Wohlklang“ und „Sanglichkeit“ gebraucht werden, aber eigentlich eine ähnlich tiefschürfende Auseinandersetzung verdienten wie die Angeber-Kollegen Harmonie und Rhythmus. Und auch für eine weitere bedauernswerte Spezies, die ähnlich unter arroganter Missachtung leidet, bricht Metheny überraschend eine Lanze: deutsche Jazzkritikerinnen und Jazzkritiker. Die seien wegen ihrer unverblümten Direktheit wirklich großartig, findet der Gitarrist. Fürs nächste YouTube-Interview deshalb der Tipp: Vorher nicht so lange in der Sonne liegen, Pat, die Birne sieht ganz schön rot aus!

Das Angebot an interessanten Musikdokumentationen hält sich auf Disney + zwar mit Ausnahme von „Summer of Soul“ deutlich in Grenzen. Was aber nicht heißt, dass das Programm gänzlich frei von Jazzlegenden-Auftritten wäre! In der 15. Folge der ersten Staffel der Heranwachsenden-Sitcom „Das Leben und Riley“ taucht nämlich unvermittelt Herbie Hancock auf, der als U-Bahn-Musiker auf seinem Umhänge-Keyboard „Cantaloupe Island“ dudelt. Ich muss ja gestehen: Ich fühle mich gerade ein wenig von ihm verfolgt. Nichtsahnend schaute ich jüngst im Fernsehen Luc Bessons extrem bunten, aber auch etwas seelenlosen „Star Wars“- und „Avatar“-Mischmasch „Valerian“ an. Wer taucht da plötzlich in der Rolle des intergalaktischen Verteidigungsministers in schmucker Uniform auf? Richtig, Herbie, aber diesmal ohne Keytar, obwohl die ganz gut zur Ausstattung gepasst hätte (stattdessen verwandelt sich Rihanna, die ein schräges Alien spielt, in ihn. Ist ein bisschen kompliziert zu erklären). Und dann wäre noch Jim Jarmuschs Zombie-Film „The Dead Don’t Die“, den viele wegen seiner 90er-Jahre-Ironie und Dauer-Augenzwinker-Zitatfülle ja nicht so frisch fanden. Da bittet ein Paketbote (gespielt von Rapper RZA) um eine Quittierungsunterschrift. Allerdings nicht mit der in den USA gängigen Floskel „Put your John Hancock here“ (im Deutschen würde man „seinen Friedrich Wilhelm druntersetzen“ sagen), sondern, natürlich, mit „Put your Herbie Hancock here“. Was deutlich macht, in welch hohem Ansehen der Pianist bei Regisseuren mit Vorliebe für popkulturelle Verweise steht. Wer noch mehr Lust auf Herbie-Cameos jenseits von Bertrand Taverniers „Round Midnight“ hat: Er spielt im gänzlich vergessenen Thriller „Hitters“ aus dem Jahr 2002 einen Bezirksanwalt, in der schwer erträglichen Frauenvermietungs-Schmonzette „Ein unmoralisches Angebot“ von 1993 sich selbst und in einer 1981 ausgestrahlten Folge der Serie „Die Supertypen“ jemanden namens Gideon. Falls mal einer beim Kneipenquiz in der Blues-Kaschemme um die Ecke danach fragt.