Binge-Jazz, Folge 9 (November 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Wenn Ella ,My Man’s Gone‘ singt, denkst du, der Typ holt gerade noch ein bisschen Brot. Aber wenn Lady das singt, dann siehst du ihn mit gepackter Tasche die Straße runtergehen und niemals wiederkommen.“ Bobby Tucker, der zwischen 1946 und 1949 Billie Holidays Pianist und musikalischer Leiter war, mag ein bisschen voreingenommen in seinem Urteil sein. Gleichwohl lässt sich nur schwer bestreiten, dass niemand einen Song bis in seine letzten Nuancen so tief empfunden durchleiden konnte wie Lady Day. „Billie – Legende des Jazz“ ist auch deshalb eine so großartige Dokumentation, weil sie wie ihr Porträtgegenstand nicht einfach irgendetwas herunterrattert, sondern eine Geschichte erzählt. Genau genommen sind es gleich zwei. Der Film des Briten James Erskine, der am 11. November nach einjähriger Wartezeit endlich ins Kino kommt, handelt auf der einen Seite von Lady Day und ihrem ganz speziellen Leben zwischen Rausch, Missbrauch und Stolz. Auf der anderen Seite ist „Billie“ aber auch das Porträt der Journalistin Linda Lipnack Kuehl. Acht Jahre lang, bis zu ihrem frühen und rätselhaften Tod 1978, arbeitete sie geradezu fieberhaft an einem Buch über die von ihr verehrte Sängerin und führte unzählige Interviews mit deren Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern. Sie wollte „etwas Wahres“ über Billie Holiday schreiben, „damit die „Menschen sie so sehen, wie sie ist“. Die Biografie wurde nie fertig, zurück blieben über hundert Musikkassetten mit 200 Stunden Audiomaterial. Dieses dient Erskine, der die Rechte an Kuehls Aufzeichnungen erwarb, als Grundlage für seinen Film. Und so erfährt man nun aus den berufenen Mündern von Prominenten wie Count Basie oder Tony Bennett, aber auch von Cousins, Zuhältern und Drogenfahndern viele ungeschönte Details aus Holidays Leben und Karriere: ihre Liebe zu Frauen, ihr Hang zur Selbstbestrafung, ihre Zweifel und Kämpfe gegen Rassismus und Machismo. Da geht es dann um fun facts wie Schoßhunde, die als hechelnde Drogenkuriere eingesetzt wurden. Aber auch um den Vorwurf, dass man sie zu stimmlichem Blackfacing zwingen wollte, weil sie für die Ohren ihres Produzenten John Hammond nicht schwarz genug geklungen haben soll. Dadurch, dass Erskine das Leben der Sängerin in dem der Journalistin spiegelt, gewinnt „Billie“ eine ganz eigene Plastizität (wogegen die nachträglich kolorierten Konzertaufnahmen eher wie ein hübsches Gimmick wirken). Dieses Prinzip der kunstvollen Doppelbiografie mit einem Schuss Krimi-Suspense erinnert stark an Kasper Collins herausragende Dokumentation „I Called Him Morgan“ über Lee Morgan und seine Frau/Mörderin Helen (auf Netflix abrufbar) – und ist genauso spannend. Großes Kino!

Wie dringend nötig Kuehls Interviews als Korrektiv für falsche Mythenbildungen sind, sieht man an dem Umgang der Filmindustrie mit Billie Holiday. Ein gleichermaßen faszinierendes wie bizarres Beispiel ist das Kinowerk „Lady Sings the Blues“ aus dem Jahr 1972, in dem immerhin Diana Ross Lady Day spielt (https://www.youtube.com/watch?v=pScVQQDDyuI). Während Ross emotional wirklich alles aus sich herausholt (und eine Regie verdient gehabt hätte, die einiges davon drinnen gelassen hätte), verzettelt sich der von Motown-Chef Berry Gordy produzierte Film in Verharmlosungen und hanebüchenen Klischees. Vor allem die Zeichnung von Holidays Ehemann Louis McKay als edlem Ritter ist extrem irritierend. Weil es, siehe „Billie – Legende des Jazz“, nicht der Wahrheit entsprach (McKay schlug seine Frau und verweigerte ihr das Essen). Und zudem den Eindruck entstehen lässt, dass Holiday auf einen Mann als Retter angewiesen war. Was übrigens eine probate Erzählschablone der Traumfabrik ist, die sich bis heute hartnäckig hält. Denn auch in dem 2021 erschienenen „The United States vs. Billie Holiday“ (s. Binge-Jazz-Folge 3; in Amazon Prime Video enthalten) braucht die Sangeslegende dringend einen Beschützer. In diesem Fall ist es der Bundespolizist Jimmy Fletcher, der sie eigentlich wegen Drogenbesitzes dran kriegen soll, sich dann aber in sie verliebt. Immer dieser romantische Quatsch!

Die Dramatikerin und Pulitzer-Preisträgerin Suzan-Lori Parks, von der das Drehbuch zu „The United States vs. Billie Holiday“ stammt, kann aber auch anders. Das beweist sie mit ihrem Skript zu „Aretha“, dem dritten Teil der Serienanthologie „Genius“ des National Geographic Channel (auf Disney + zu sehen). Parks erzählt das Leben von Aretha Franklin als eine lange Reihe von Emanzipationsgeschichten. Die Sängerin muss sich von sehr vielen Männern freimachen, um nicht nur äußerlich eine Queen of Soul zu werden (als solche wird sie in der ersten Folge gekrönt). Zu nennen wären da ihr erster Ehemann und mittelmäßig begabter Manager Ted White, ihre weißen Produzenten, die sie entweder fälschlicherweise als Jazzsängerin sehen (John Hammond, schon wieder!) oder Bauchgrimmen wegen ihres erwachenden politischen Bewusstseins entwickeln (Jerry Wexler) – und natürlich zuvorderst ihr Erzeuger. Der schillernde Reverend Clarence LaVaughn Franklin liebte den Samstagabend genauso wie den Sonntagmorgen und war ein wirklich miserabler Ehemann. Dafür aber ein guter Vater, ein charismatischer Prediger vor dem Herrn und ein Bürgerrechtspionier. Durch ihn lernte das singende Wunderkind Aretha Franklin früh das Leben auf Tour sowie jede Menge Prominenz kennen, darunter Martin Luther King oder Sam Cooke. Als einschneidend wird in „Aretha“ das Zusammentreffen mit Art Tatum und Dinah Washington geschildert. Gespielt wird Tatum von Robert Glasper, was nur einer der unzähligen Belege für das durchweg hohe musikalische Qualitätsbewusstsein der Serie ist. Ehrensache, dass die beiden fabelhaften Hauptdarstellerinnen Shaian Jordan (als junge Aretha) und Cynthia Erivo (als ihr erwachsenes Pendant) auch alles selber singen und es nicht zu unangenehmen Playback-Momenten wie in so vielen anderen Biopics kommt. Dramaturgisch können die acht zuweilen etwas zähen Folgen nicht immer mit den ausstattungsprallen Songdarbietungen mithalten – die ständigen Zeitsprünge verwirren, und Aretha muss für meinen Geschmack ein wenig zu oft sorgenvoll auf den Fernseher starren, wenn mal wieder irgendwo Rassenunruhen ausgebrochen sind. Zum „Comfort Binge“ ist die Serie daher nur bedingt geeignet. Ausdrücklich empfohlen seien aber die Folgen „Young, Gifted and Black“ sowie „Amazing Grace“, die die Entstehung der jeweiligen Alben vor ihren gesellschaftlichen und seelischen Hintergründen filmisch ansprechend einfangen.

Aber genug von Frauen geredet. Jetzt soll es noch mal um alte weiße Männer gehen, die so richtig schöne alte-weiße-Männer-Sachen machen. Zum Beispiel nerdig um ein Mischpult herumstehen und bedeutungsvoll über die Vergangenheit reden. Da es sich um die zauselbärtige Produzentenlegende Rick Rubin und den ebenfalls nicht ganz unbekannten Paul McCartney handelt, hört man gerne zu. Der Serie „McCartney 3,2,1“ (auf Disney +), in der sich der Beatles-Begründer entspannt mit dem ehrfurchtsvoll lauschenden Rubin unterhält, verdanken sich mindestens zwei wertvolle Erkenntnisse. Die erste: Schwarzweiß-Aufnahmen stehen dem mittlerweile 79-jährigen Paul McCartney extrem gut; möglicherweise auch deshalb, weil man auf diese Weise seine Haarfärbeunfälle nicht mehr so genau sieht. Die zweite: Man kann auch mit Jazz-Akkorden Welt-Hits schreiben – man muss dafür halt nur Paul McCartney sein. Die Rede ist vom Gassenhauer „Michelle“, in dem ein verminderter Dominantseptakkord versteckt ist, den sich McCartney und George Harrison seinerzeit von dem Liverpooler Gitarrenverkäufer Jim Gretty im Musikladen Hessy’s zeigen ließen. Anschließend experimentierte der junge Paul so lange mit dem verhexten Vierklang herum, bis er ihn auf den Partys von John Lennons Kunsthochschule so überzeugend spielen konnte, dass die Mädels den schwermütigen Gitarristen im schwarzen Rollkragenpullover für einen französischen Existenzialisten hielten. McCartney weiß angeblich bis heute nicht, wie der magische Akkord heißt – Rick Rubin gegenüber nennt er ihn nur „F demented“. Die sechs Episoden von „McCartney 3,2,1“ scheinen aber nur ein Amuse-Gueule zu sein, das Disney + auslegt, um Fans auf die sechsstündige Dokumentation „The Beatles: Get Back“ aufmerksam zu machen. Das in drei Teilen aufgesplittete Werk, das Ende November ausgestrahlt werden soll, stammt übrigens vom „Herr der Ringe“-Regisseur Peter Jackson. Ich bin schon gespannt auf Yoko Ono als Sauron und Ringo Starr als Hobbit mit süß behaarten Füßen.