Binge-Jazz, Folge 10 (Dezember 2021)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Es ist wahrhaft herzzerreißend! Das Waisenkind Reggie hat endlich Zieheltern gefunden, die ihm Liebe, Geborgenheit und ein wundervolles Zuhause geben. Und was passiert dann? Erst stirbt die Mutter bei einem Autounfall, den ein Betrunkener verursacht hat. Und dann will die Adoptionsbehörde dem am Boden zerstörten Vater auch noch das Kind wegnehmen. „Ist es, weil ich alleinerziehend bin?“, fragt der Mann die gestrenge Dame vom Amt. „Nein.“ „Ist es, weil ich ein Mann bin?“ Kopfschütteln. „Aber warum denn dann?“ Einfache Antwort: Weil er ein Jazzmusiker ist. Nachts immer weg, keine geregelten Arbeitszeiten und ständig auf Tour („Boppin‘ around the country“, wie es die Frau von der Adoptionsbehörde formuliert) – so jemandem vertraut man nun wirklich kein Kind an. Da muss schon ein Wunder her, damit es ein Happy End gibt. Glücklicherweise handelt es sich bei „The Kid Who Loved Christmas“ (https://www.youtube.com/watch?v=dTF91IzUOKs) um den Vertreter eines Genres, das traditionell keine Probleme mit dem Übernatürlichen hat. Ein Hoch auf die Gottesmutter! Denn seit Maria mit der Jungfrauengeburt durchgekommen ist, können sich die Macher von Weihnachtsfilmen einiges leisten – selbst so etwas Unglaubwürdiges wie einen Jazz-Saxofonisten, der das Glück findet. Wobei „The Kid Who Loved Christmas“ (dt.: „Der Brief an den Weihnachtsmann“), der 1990 zum ersten Mal im US-Fernsehen lief, wirklich etwas Besonderes ist. Produziert wurde das Werk nämlich von Eddie Murphy, der zwei Jahre nach dem weltweiten Erfolg von „Der Prinz aus Zamunda“ beweisen wollte, dass man nicht nur eine romantische Komödie, sondern auch einen Weihnachtsfilm mit einer mehr oder minder komplett schwarzen Besetzung machen kann. Dementsprechend handverlesen ist der Cast: Neben Michael Warren und Trent Cameron als knuddeliges Vater-Sohn-Gespann geben sich unter anderem Miles Davis‘ Ex-Frau Cicely Tyson, „Ghostbusters“-Komponist Ray Parker Jr., Sängerin Della Reese sowie Sammy Davis Jr. in seinem letzten Filmauftritt die Ehre. Vor allem die beiden Letzteren bewahren den Film davor, an zu großer Rührseligkeit und einem teuflischen Soundtrack aus seifigem Sopransaxgesäusel und synthetischem Elfenblähungsklingklong zu ersticken. Wenn Reese mit großer Autorität und noch größerer emotionaler Anteilnahme Standards wie „I Remember You“, „God Bless the Child“ oder „Amazing Grace“ singt, gibt es aus Jazz-Kritiker-Sicht nichts zu meckern. Und offen gestanden lohnt sich „The Kid Who Loved Christmas“ allein schon wegen der Auftritte von Sammy Davis Jr. und seiner unnachahmlichen Art, Geschichten zu erzählen. So einen Swing sucht man in „Der kleine Lord“ vergeblich!

Nur schlappe 30 Jahre nach „The Kid Who Loved Christmas“ wagten es auch Disney und Pixar, erstmals eine schwarze Hauptfigur in einem Animationsfilm fürs Weihnachtsgeschäft zu präsentieren. Und da die Welt anscheinend auch 2020 noch nicht so weit war, sich andere Professionen für einen solchen Charakter vorzustellen, musste er, na klar, schon wieder ein Jazzmusiker sein. Dass „Soul“ (zu sehen auf Disney +) in musikalischer Hinsicht über jeden Zweifel erhaben ist, verdankt sich einer höchst illustren Liste an Beratern, darunter Terri Lyne Carrington, Herbie Hancock oder Jon Batiste, der auch die im Film zu hörenden Modern-Jazz-Kompositionen beisteuerte. Da stimmt wirklich alles: Der Club, in dem der Pianist Joe Gardner (gesprochen von Jamie Foxx) für seinen Traumjob bei der Starsaxofonistin Dorothea Williams (am Altsax: Tia Fuller) vorspielt, ist ziemlich deutlich dem „Village Vanguard“ nachempfunden, die Tunes wirken authentisch und heutig, und wohl noch nie sah man animierte Finger derart akkurat die richtigen Klaviertasten greifen wie hier – weshalb man sich auch noch 2021 den Film gemeinsam mit dem Nachwuchs anschauen kann, ohne jazzpädagogisch etwas falsch zu machen. Wobei die deutschen Untertitel mögliche Bildungserfolge sabotieren könnten: Denn immer dann, wenn in „Soul“ jemand improvisiert, steht da plötzlich: „schiefe Musik im Hintergrund“. Im Übersetzungsbüro befanden sich vermutlich keine Jazzfans.

Aber zurück zum Leben auf der Straße, zum „boppin‘ around the country“: Was ist mit Abstand das Romantischste und Schönste am Musikmachen? Weiß doch jeder! Die Furzgerüche im Bandbus, das schlechte Essen und der nach nassem Hund riechende Schlafsack, den man in die Bassdrum gestopft hat. Zumindest ist das die Meinung der Leute, die der Foo-Fighters-Schlagzeuger Dave Grohl in seiner 2021 veröffentlichten Dokumentation „What Drives Us“ (enthalten in Amazon Prime Video) für die Kamera befragt hat. Bei dem Film handelt es sich um eine Hommage an die alten und vollgestopften Vans, mit denen Musikgruppen von Gig zu Gig reisen. Damit rührt Grohl an einen Topos, der so alt ist wie die USA: den Trip ins Ungewisse, der sich seit dem Treck der Pioniere in der DNA des Landes befindet. Es ist eine Faszination am Unterwegssein, der auch heute noch alle erliegen, die sich anstelle von Kutsche und Winchester mit Gitarren, Gebläse, Tasteninstrumentarium und Schlagwerk auf den Weg machen, gleich welchen Alters oder welcher Musikstilistik. Und so spricht der Rockschlagzeuger Grohl unter anderem mit dem 89-jährigen Saxofonisten und Klarinettisten Charlie Gabriel von der Preservation Hall Jazz Band, dem blutjungen Brüdertrio Radkey, das sich von seinem Vater chauffieren lässt, sowie mit allerhand Prominenz. Darunter U2-Gitarrist The Edge, Metallica-Drummer Lars Ulrich, AC/DC-Frontmann Brian Johnson oder die Sängerin St. Vincent. Ungeachtet des rauen spaßhaften Tons gibt es auch sehr zarte Momente. Etwa, wenn Bassist Flea von den Red Hot Chili Peppers erzählt, dass er ursprünglich Jazztrompeter werden wollte – und wie ihn das Trompetenspiel den waffenschwingenden Junkie-Vater und das Mobbing der anderen Kinder vergessen ließ. Wir alle sitzen im gleichen Boot, pardon, schlecht gefederten Kleinbus, lautet die Botschaft von „What Drives Us“. Aber leider schafft es Grohl wie in seiner Vorgänger-Regiearbeit „Sound City“ erneut, eine an sich tolle Idee an die Wand zu fahren. Und zwar, indem er sich am Ende auf irgendeiner Stadionbühne vor Tausenden von ausrastenden Fans zeigt. „What Drives Us“ bekommt dadurch einen unangenehmen Auspuff-Beigeschmack von alterndem Rockstar, der gerne noch mal jung und unschuldig durch die Lande ziehen würde. Solche Luxusprobleme hätte man gerne.

Jetzt hat es auch Norah Jones erwischt. Eigentlich wollte sie so etwas Schlimmes niemals tun, aber dann hat sie 2021 mit „I Dream of Christmas“ doch ihr erstes Weihnachtsalbum aufgenommen. Als einer, der ewig standhaft blieb und sich dem Gabentischbeschallungsdiktat der Industrie nicht beugte, galt hingegen der Pianist Bill Evans. Eine Ausnahme gab es freilich: Seine Version von „Santa Claus is Coming to Town“ auf der Platte „Trio 64“ gemeinsam mit Gary Peacock am Bass und Paul Motian an den Drums. Alle, die das für einen kleinen Ausrutscher hielten, müssen nun tapfer sein: Der sensible, stets so ernst und in sich gekehrt wirkende Evans spielte das Stück nicht nur auf dem Klavier. Nein, er sang auch noch dazu. Wie das klang, kann man dem Clip „Bill Evans Sings! ,Santa Claus is Coming To Town‘ (https://www.youtube.com/watch?v=cDhMZmkmnBk) entnehmen. Ich wünsche zum Fest einen ähnlich fröhlichen Umgang mit Misstönen aller Art.