Binge-Jazz, Folge 11 (Januar 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Was soll eigentlich immer das Gewese um die guten Vorsätze fürs neue Jahr? Wie wäre es zur Abwechslung mal damit, dass sich das neue Jahr vornimmt, alles ein bisschen besser zu machen als das vergangene? Da hätte 2022 eine wahrlich große Auswahl: Endlich mit der Pandemie aufhören, sich die Wetterextreme abgewöhnen oder mehr Hirn regnen lassen. Es könnte sich aber auch ein Beispiel an dem Jahr 1959 nehmen, das den Jazz grundlegend veränderte, wie die Dokumentation „1959, The Year That Changed Jazz“ (https://vimeo.com/196808886) verdeutlicht. Innerhalb von zwölf Monaten erschienen 1959 gleich vier bahnbrechende Platten: Miles Davis‘ „Kind of Blue“, das als das meistverkaufte Jazzalbum der Geschichte gilt, Charles Mingus‘ „Mingus Ah Um“, Ornette Colemans „Shape of Jazz to Come“ sowie „Time Out“ von Dave Brubeck und seinem Quartett, das mit „Take Five“ die bis heute erfolgreichste Jazz-Single hervorbrachte. Auch wenn die Kamera oft geradezu lüstern über die Albumcover, vorsintflutliche Abspielgeräte und Schwarzweiß-Fotografien streichelt, gelingt dem Regisseur Paul Bernays ein Blick unter die Oberfläche. Er verwebt die Entstehungsgeschichten der Meisterwerke pointiert mit den gesellschaftlichen Hintergründen der ausklingenden Eisenhower-Ära und erhellenden Bemerkungen von Beteiligten, Experten und prominenten Fans. Darunter Lou Reed, der erzählt, dass er jeden Tag seinen Lieblingssong vor sich hinsummt: Ornette Colemans „Lonely Woman“. Viele der Gewährsfrauen und -männer für die turbulenten Ereignisse im Superjahr des Jazz sind wie Reed inzwischen leider verstorben. Regisseur Bernays konnte für seinen Film, der 2009 erschien, zum Glück noch mit einigen von ihnen sprechen. Zum Beispiel mit Drummer Jimmy Cobb, der über den legendären Beckenschlag am Beginn des Trompetensolos in „So What“ Auskunft gibt, oder mit Jazzkritiker Stanley Crouch, der den wahren Grund für den Wahlsieg Barack Obamas 2008 offenbart: Es lag am Jazz und der Pionierarbeit, die 1959 geleistet wurde, als die USA lernten, künstlerische Leistungen jenseits der Hautfarbe zu respektieren und zu verehren. Letztendlich, so erfährt man in dem dokumentarischen Essay, sind die Album-Meisterwerke der genial kondensierte Ausdruck der Ängste, Hoffnungen und Zerrissenheit ihrer Zeit. Die Furcht vor dem atomaren Armageddon des Kalten Krieges, die aufplatzenden Wunden des Rassismus, aber auch Fortschrittsoptimismus und der unbedingte Wille, kulturelle Grenzen zu sprengen, klingen aus den Schallplattenrillen. „Musik ist nichts Destruktives“, spricht Ornette Coleman, „sondern etwas, das immer besser wird.“ Ein guter Vorsatz für 2022.

Wo wir schon bei wegweisenden Alben und überragenden Persönlichkeiten sind: Am 1. Dezember wäre Jaco Pastorius 70 geworden. Wie ein kleines Geschenk des Himmels wirkt es da, dass man sich auf Youtube passend zum runden Geburtstag des 1987 verstorbenen E-Bass-Revolutionärs eine Dokumentation anschauen kann, die eigentlich als verloren galt. Die drei französischen Jaco-Fans Nicolas Clabaut, Chris Reynaud und François Loubeyre hatten im Jahr 2006 beschlossen, in Eigenregie einen Film über ihr Idol zu drehen. Dafür lauerten sie unter anderem Joe Zawinul, Peter Erskine oder Marcus Miller bei Konzerten auf und nervten diese so lange, bis sie ihnen vor der Kamera Geschichten über den Fretless-Magier erzählten. Dummerweise gingen sämtliche Aufnahmen bei einem Umzug verschütt. Dann aber fand einer der Amateurfilmer 2021 durch Zufall auf seinem Dachboden eine verstaubte Festplatte, auf der sich wie durch ein Wunder sämtliches Material befand. Selbst, wenn sich die Franzosen diese schöne Geschichte nur ausgedacht haben sollten: „Jaco Pastorius: The Lost Tapes Documentary“ (https://www.youtube.com/watch?v=TviJ3ccaSXM) ist durchaus sehenswert. Und das gerade wegen seiner Limitierungen. Da wird nicht mit großem erzählerischen Schwung die Biografie ausgebreitet und mit bestens ausgeleuchteten Gesprächspartnern illustriert wie in dem 2014 erschienenen Film „Jaco“, der von Metallica-Bassist Robert Trujillo mitproduziert wurde (und auch sehr empfehlenswert ist). Clabaut, Reynaud und Loubeyre beschränken sich vielmehr auf die von ihnen geführten Künstler-Gespräche und reichern sie mit Stock-Fotos und im Internet gefundenen Konzertaufnahmen an. Ich muss sagen: Ich mag das Rohe, Unbehauene. Wenn etwa der unglaublich freundliche Peter Erskine intime Details über sein Verhältnis zum Weather Report-Kollegen preisgibt, während im Hintergrund Leute ihre Jacken von der Garderobe abholen oder sich lauthals unterhalten. So ist das halt, wenn man in einem Jazz-Club nach einem Gig Interviews führt. Die Musiker wirken in ihrem ureigenen Biotop offener als in einer angemieteten Hotelsuite oder im gediegenen Wohnzimmer mit sorgsam polierten Grammys auf dem Regal, finde ich. Kleiner Tipp: Nicht schon beim Abspann abschalten und aufs nächste Katzenvideo klicken. Denn als Bonus gibt es noch zwei musikalische E-Bass-Kostbarkeiten – Marcus Miller interpretiert „Continuum“ und der viel zu früh verstorbene Dave Carpenter „Donna Lee“. Atemberaubend!

Cowboy Bebop“? Hmm, hat sicherlich irgendetwas mit der Sonny-Rollins-Platte „Way Out West“ und ihrem legendär albernen William-Claxton-Cover zu tun, oder? Völlig falsch! Hinter dem Namen verbirgt sich eine Anime-Serie aus dem Jahr 1998, die jetzt von Netflix mit echten Schauspielern adaptiert wurde. Die Mischung aus Steampunk, tarantinohaft übertriebener Gewalt und Science-Fiction-Trash muss man nicht zwangsläufig gut finden – bei der Musik ist es aber etwas anderes. Die japanische Komponistin Yoko Kanno trägt mit ihren Stücken großartig zu der gleichermaßen coolen wie überdrehten Stimmung der Serie bei, indem sie bewusst auf Jazzaffines setzt. Der Intro-Song „Tank!“ besticht etwa mit rasantem Big-Band-Swing und virtuoser Trompeten-Hochtönerei à la Maynard-Ferguson. Man hört aber auch Hardbop mit elegantem Sax und Vibrafon oder eine keckernde Miles-Davis-Trompete zu frei drehendem Klavier und funky Gitarren-Single-Notes, während mal wieder irgendwas in die Luft fliegt. Aufgenommen wurden einige der Stücke, die noch aus der 1998er Original-Anime-Reihe stammen, übrigens von einem echten Superhelden: nämlich von Toningenieur-Legende Rudy Van Gelder. Bleibt die Frage, weshalb das Ur-Genre des modernen Jazz eine so große Anziehung auf die Comic-Industrie ausübt: So heißt etwa einer der Schurken in „Teenage Mutant Ninja Turtles“ (hier ein Ausschnitt aus dem zweiten Teil der Kino-Adaption: https://www.youtube.com/watch?v=6MJJXdBz1q0) allen Ernstes Bebop und ist ein, äh, Schwein. Und wo leben die putzig animierten Vögelchen, die sich in der musikalischen Früherziehungsserie „Do, Re & Mi“ (enthalten in Amazon Prime Video) einen zwitschern? Richtig: in Bebopsburg. Sonny Rollins, der auch schon einmal einen Auftritt bei den „Simpsons“ hatte (Staffel 24, Folge 19), würde das vermutlich sehr gefallen.

Ach ja: Wer noch nicht weiß, wie er den elend langen Rest des Jahres rumkriegen soll – kein Problem. Man könnte zum Beispiel sämtliche Solophrasen auswendig lernen, die auf der Instagram-Seite Jazzlick Daily (https://www.instagram.com/jazzlickdaily/?hl=de) mustergültig ausnotiert versammelt sind. Besonders verdienstvoll, dass da nicht nur Künstlerinnen und Künstler wie John Coltrane, Woody Shaw oder Melissa Aldana bedacht werden, sondern auch jene berühmte Parkhaustür, die exakt so klingt wie Miles Davis in seiner elektrischen Phase (Door Does Impression of Miles Davis, https://www.youtube.com/watch?v=wwOipTXvNNo). Zum Quietschen!