Binge-Jazz, Folge 12 (Februar 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Jetzt geht sie wieder los, jene närrische Zeit, in der man sich darüber aufregt, dass sich Kinder im Karneval als Indianer oder Indianerin verkleiden. Abgesehen davon, dass dieses Kostüm bei den Kids ungefähr so out ist wie der Cowboy-Fummel, müsste man wegen kultureller Aneignung konsequenterweise noch deutlich mehr verbieten: den Blues. Den Rock’n’Roll. Und natürlich den Jazz. Zu dieser Überzeugung könnte man jedenfalls gelangen, wenn man sich die Dokumentation „Rumble – The Indians Who Rocked the World“ (hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=qDEtj-zjFzE) bei ein paar Stangen Kölsch zu Gemüte führt. Der 2017 in Sundance uraufgeführte Film der kanadischen Regisseurin Catherine Bainbridge zeigt an zahlreichen prägnanten Beispielen, wie stark die Melodien und Rhythmen der amerikanischen Ureinwohner die Entwicklung der Musik in den USA bestimmten: Da wäre etwa Charley Patton zu nennen, der legendäre Vater des Delta-Blues, der von den Choctaws im Mississippi-Mündungsgebiet abstammte und seine Gitarre wie eine Trommel zu spielen pflegte. Oder Link Wray aus dem Volk der Shawnee, der mit seinem 1958 veröffentlichten Proto-Punk-Stück „Rumble“ die Behörden derart in Angst und Schrecken versetzte, dass man die instrumentale Nummer (sic!) auf den Index setzte, weil man einen aufrührerischen Einfluss auf die Jugend fürchtete. Neben Jimi Hendrix, dem großartigen Session-Gitarristen Jesse Ed Davis oder Metal-Drummer Randy Castillo befasst sich die Dokumentation auch mit Mildred Bailey, die in den 1930ern als unangefochtene „Queen of Swing“ galt. Die Angehörige des Coeur-d’Alene-Stamms prägte mit ihrem Gesang unzählige Nachfolgerinnen und Nachfolger. So zum Beispiel Tony Bennett, der sich in als eifriger Adept outet. Man erfährt in „The Indians Who Rocked the World“: Baileys spezielle Art der Phrasierung über die Taktgrenzen hinaus, die man meiner Meinung nach auch deutlich bei Billie Holiday hört, weist deutliche Ähnlichkeiten mit den Gesängen der Native Americans auf. Wie überhaupt auch viele typische Wendungen des Blues wohl schon lange vor der Zeit der Plantagen und der Sklaverei auf dem nordamerikanischen Kontinent zu vernehmen waren – so legen es zumindest die archaischen Chants der A-Capella-Gruppe Ulali nahe. Man hätte durchaus noch die Bedeutung des Liedes „Cherokee“ für Charlie Parker und das Entstehen des Bebop erwähnen können, aber wir wollen mal nicht so sein. Denn am wichtigsten ist im Hinblick auf Rosenmontag am 28. Februar die Erkenntnis: Rock-Karnevals-Schlager von Gruppen wie Brings sind nicht nur in musikalischer Hinsicht ein zweifelhaftes Vergnügen.

Vor 40 Jahren, am 17. Februar 1982, verließ jemand diesen Planeten, der wegen seines Faibles für seltsame Kopfbedeckungen und enigmatische Tanzbewegungen gut auf jede Karnevalsparty gepasst hätte: Thelonious Monk. Im Sommer 2022 sollen nun die Dreharbeiten zu einem Biopic starten, in dem Yasiin Bey (vormals Mos Def) den Pianisten spielt. Da hat man also noch reichlich Zeit, sich ein paar Dokumentationen über den genialsten Eigenbrötler der Jazzgeschichte anzuschauen. Etwa „Straight, No Chaser“ aus dem Jahr 1988 (https://www.youtube.com/watch?v=FT9VeJBcEBM) oder den 1991 entstandenen Einstünder „Thelonious Monk: American Composer“ (https://www.youtube.com/watch?v=ehvPDFfalFs). Letzterer mag zwar nicht so sehr in die Vollen gehen wie das von Clint Eastwood produzierte und ungleich größer budgetierte Gegenstück, wartet aber mit einer schönen Idee auf: Viele der von Quincy Troupe geführten Interviews fanden im entkernten Minton’s Playhouse in New York statt, das 1974 geschlossen wurde (und erst 2006 unter dem Namen „Uptown Lounge at Minton’s Playhouse wiedereröffnete). So, wie die Gesprächspartner die Topographie des Spielortes in ihrem Geiste rekonstruieren, wird auch die Architektur von Monks Personalstil Stück für Stück offen gelegt und reanimiert. Etwa dann, wenn Randy Weston am Klavier demonstriert, wie stark der Einfluss von James P. Johnsons Stride-Musik auf das Spiel des Bebop-Miterfinders war. Ähnlich eigenwillig wie der Erzählgegenstand der Dokumentation (Weston: „Er konnte keine Kompromisse machen, er wusste schlicht und einfach nicht, wie das geht“) sind übrigens die automatisch generierten englischen Untertitel. Da wird aus Bud Powell mal „Butthead“ (wenn das Beavis wüsste!) und aus Thelonious Monk ein „felonious monk“. Verbrecherischer Mönch – das klingt tatsächlich wie eine Karnevalsverkleidung.

Charlie Parker (wie Charley Patton ein Choctaw-Nachfahre) starb viel zu früh, aber er starb mit einem Kichern: Als er im Fernsehen einen Jongleur mit Ziegelsteinen sah, was der Saxofonist im wahrsten Sinne des Wortes zum Totlachen fand. Es ist die Spezialität des französischen Films „Charlie Parker: Bird Songs“ (noch bis 9. März in der Arte-Mediathek unter https://www.arte.tv/de/videos/098145-000-A/charlie-parker-bird-songs/), diese wie andere Szenen aus Parkers musikalischer Biografie mithilfe von flink dahinfließenden Animationen zu visualisieren. Es wirkt manchmal so, als würden die Plattencover von David Stone Martin zu „Bird and Diz“ oder „Charlie Parker With Strings“ zum Leben erwachen und muntere Flugkapriolen schlagen wie ein übermütiger Vogel. Überhaupt gelingt es den Filmemachern Jean-Frédéric Thibault und Arnaud Xainte sehr gut, den Paten des Bebop nicht wie ein Museumsstück zu behandeln. Während US-Schwergewichte wie Archie Shepp und Steve Coleman das Genie Parker jenseits der gängigen Klischees in die musikhistorischen und gesellschaftlichen Bezüge einordnen (und dabei das Evolutionäre gegenüber dem Revolutionären betonen), lassen die europäischen Kolleginnen und Kollegen Géraldine Laurent, Antonin-Tri Hoang und René Urtreger auch beredt ihre Instrumente vom einflussreichsten Altsaxofonisten der Jazzgeschichte erzählen. Bird lives!

Holiday on Ice“, „Disney on Ice“, „Titanic on Ice“ – hach, was es nicht schon alles gab! Cory Wong, Gitarrist von Vulfpeck und Host der gleichermaßen lustigen wie lehrreichen Fake-Talkshow-Reihe „Cory and the Wongnotes“ (in Folge 5 wird zum Beispiel die Frage verhandelt, wie viele Solo-Chorusse über „Misty“ juristisch zulässig sind – zu sehen hier: https://www.youtube.com/watch?v=vJt3ae9VYV4), hat noch einen draufgesetzt und das realisiert, was wir uns alle immer schon gewünscht haben, ohne es zu wissen: Funk-Jazz on Ice! Dafür hat er seiner zehnköpfigen Band Schlittschuhe besorgt, eine Eissporthalle gemietet und sich jede Menge Unfug ausgedacht. Während es musikalisch für ihn und seine Wongnotes ausgesprochen glatt läuft, müssen wir leider Abzüge in der sportlichen B-Note vornehmen: Beim Penalty-Schießen gegen Wongs Bruder Andy im Eishockey-Tor versagt das Ensemble kläglich. Bleibt zu hoffen, dass „WONG ON ICE!“ (https://www.youtube.com/watch?v=46qJoBcctGI) das vorerst Letzte ist, was im Jazzbereich auf Eis gelegt wurde.