Binge-Jazz, Folge 19 (September 2022)
Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.
Falls jemand zufällig am 3. September in Washington sein sollte: Im Rahmen des „DC Jazzfest“ wird dort der Film „Hargrove“ (hier der Trailer: https://vimeo.com/703430985/14de49faad) präsentiert. Das Werk, das im Juni seine Premiere auf dem von Robert De Niro gegründeten Tribeca Film Festival hatte, zeigt noch einmal eindrücklich Roy Hargroves Rastlosigkeit, Großartigkeit und Zerbrechlichkeit. Regisseurin Eliane Henry, die eng mit Hargrove befreundet war, konnte zu Beginn der Dreharbeiten nicht ahnen, dass ihr Regiedebüt zu einem Requiem werden würde – „Hargrove“ dokumentiert das letzte Jahr im Leben des Trompeters, der am 2. November 2018 mit 49 Jahren überraschend an Herzversagen als Folge einer schweren Nierenerkrankung verstarb. Sie arbeite gerade daran, einen Vertrieb für den Film zu finden und hoffe, dass man ihn bald auf einem der einschlägigen Streamingdienste finden könne, teilt Henry auf Anfrage via Mail mit. Bis es so weit ist, kann man auf Rob van Bergs knapp einstündigen Beitrag „Roy Hargrove – Documentary 1997“ fürs niederländische Fernsehen zurückgreifen, der auch den Auftritt des Trompeters beim North Sea Jazz Festival 1996 festhält (https://www.youtube.com/watch?v=YDMVSbI_3fQ). Keine Sorge: Es gibt nur zwei kurze Passagen auf Niederländisch, ansonsten lässt van Berg Hargrove, seine stolze Oma, seine Lehrer und seine Weggefährten auf Englisch zu Wort kommen. Die Dokumentation ist aus verschiedenen Gründen bedeutsam – unter anderem wird man Zeuge der Gründung der Big Band, mit der Hargrove 2009 seine letzte Platte unter eigenem Namen aufnehmen sollte. Außerdem huscht einmal die 1996 noch völlig unbekannte Norah Jones durchs Bild – als schüchterne Klavierschülerin bei einer Unterrichtsstunde an der Booker T. Washington High School for the Performing and Visual Arts in Dallas, die neben Hargrove und Jones auch Erykah Badu hervorbrachte. Des Weiteren erhält man einen Eindruck vom enorm aufreibenden Lebensstil des jungen Trompetenstars, der praktisch das gesamte Jahr auf Tour war und selbst zuhause in New York die Nächte in den Clubs zum Tag machte. „Vampire life“, nannte Hargrove diesen Raubbau im Namen der Musik. Am Schluss zitiert der damals 27-Jährige den Saxofonisten Gary Bartz mit den Worten: „Jazzmusiker sind wie guter Wein, sie müssen altern.“ Roy Hargrove bekam leider nicht die Gelegenheit dazu.
„Wir sind Team Jazz und stehen auf unerlaubte Abwesenheit“: Mit legendären Zeilen wie diesen aus dem Song „Intergalactic“ stellten die Beastie Boys eindrucksvoll unter Beweis, dass sie zwar über einen ähnlichen Musikgeschmack wie deutsche Oberstudienräte verfügen mögen, jedoch ein leicht anderes Verständnis von Anwesenheitspflicht haben. Leider erübrigt sich die Frage, ob das Trio aus New York noch einmal so eine hübsch weggetretene instrumentale Jazz-Funk-Platte wie das an The Meters und „On the Corner“ angelehnte Album „The In Sound from Way Out!“ herausbringen wird, weil die treibende kreative Kraft Adam „MCA“ Yauch vor zehn Jahren von dem Drecksack namens Krebs geholt wurde. Wie wichtig Yauch für die Entwicklung der Beastie Boys von prollig-pubertären Rap-Weißnasen zu den Elder Statesmen des brillanten Gesamtkunstwerk-Unfugs war, zeigt die „Beastie Boys Story“ auf Apple TV+ recht anschaulich. Yauch war gewissermaßen eine kreative Wundertüte, aus der immer wieder ungeahnte Talente herauspurzelten – unter anderem kaufte er sich mal aus Quatsch einen Kontrabass und konnte ihn sofort spielen. Im Veröffentlichungsjahr 2020 sorgte die von Spike Jonze inszenierte „Beastie Boys Story“ bei Fans und der schreibenden Zunft zwar für eine gewisse Enttäuschung, aber ich finde die Idee, Adam „Ad-Rock“ Horovitz und Michael „Mike D“ Diamond die Geschichte der Band in einer Art Diavortrag vor Publikum vom Teleprompter ablesen zu lassen, schon ziemlich lustig. Für weniger überzeugend halte ich die so lala gespielte Scham über Jugendsünden wie blöde Texte über Frauen oder ausfahrbare Penis-Skulpturen auf der Bühne. Dazu muss man halt, ähm, stehen. Und was den selbstzerknirscht bedauerten Rauswurf der Schlagzeugerin Kate Schellenbach angeht, die zur Gründungsformation der ursprünglich auf Punk abonnierten Band gehörte: Angesichts der verwackelten Videobilder der ersten Rapversuche der ungelenk stotternden Jungs, die ihre Reime von Zetteln ablesen mussten, war sie bestimmt gar nicht mal so unglücklich darüber, die Beastie Boys verlassen zu dürfen. Dennoch ist da eine unglaublich rohe Energie in den frühen Auftritten der New Yorker Rotzlöffel, die einen überwältigt. Und wen die so grausam vom Tod beendete Geschichte einer jahrzehntelangen Freundschaft nicht rührt, soll doch Oberstudienrat werden.
Als Mieczyslaw Kosz 1973 aus dem Fenster seiner Wohnung fiel, starb mit ihm auch eine der größten Hoffnungen der polnischen Jazzszene, die schon vier Jahre zuvor den tragischen Tod Krzysztof Komedas zu betrauern hatte. Im Gegensatz zu dem durch seine Filmmusiken berühmt gewordenen Komeda geriet Kosz, der nur 29 Jahre alt wurde, in Vergessenheit. Was auch daran lag, dass er zu seinen Lebzeiten nur ein Album unter eigenem Namen aufnahm. Die Konzerte des blinden Klaviervirtuosen müssen jedoch phänomenal gewesen sein. Einen Eindruck dieser halsbrecherischen Hochgeschwindigkeitsexkursionen zwischen polnischer Folklore, europäischer Klassik und übersprudelnder Jazzfantasie vermittelt das Biopic „Ikarus – Die Legende von Mietek Kosz“ (in Amazon Prime Video enthalten). Für die kongeniale pianistische Brillanz in dem 2019 veröffentlichten Film von Regisseur Maciej Pieprzyca bürgt der polnische Starpianist Leszek Możdżer, dessen Stil fraglos stark von Kosz beeinflusst wurde. Doch leider reicht die visuelle und inhaltliche Ebene nicht so ganz an das Niveau der Musik heran. Pieprzyca erzählt das Leben des Klaviergenies allzu melodramatisch und mit einem Hang zu wiederkehrender Zaunpfahlwink-Symbolik (Türen, die sich schließen; Fenster, die sich öffnen) und lässt seinen eifrig bemühten Hauptdarsteller Dawid Ogrodnik einen Tick zu oft verzweifelt schluchzen. Um es mit einem polnischen Filmkritiker zu sagen: „Statt einer Geschichte über einen Mann, der mit der Welt und sich selbst kämpft, bekommen wir ein herzerwärmendes Märchen und eine hübsche Postkarte aus der Volksrepublik Polen, dem Land der verrauchten Cafés, gemusterten Hemden und Hornbrillen.“ Immerhin bleibt eine schön skurrile Szene in Erinnerung, in der der des Englischen nicht mächtige Kosz sein Idol Bill Evans trifft – man verständigt sich mit gesummten Melodien und Luftklavierfingersätzen. Er sei nicht gestürzt, sondern weggeflogen, heißt es am Ende über Kosz‘ Tod. Bei allem Hadern über die dick aufgetragene Filmbiografie überwiegt denn auch der Neid auf die so überreich mit Talenten gesegnete Jazzszene Polens.
Aus aktuellem betrüblichen Anlass sei auf Stephan Lambys Film „Brüder Kühn – Zwei Musiker spielen sich frei“ hingewiesen, den 3sat aufgrund des Todes von Rolf Kühn noch einmal ins Programm genommen hat (https://www.3sat.de/kultur/musik/brueder-kuehn-lamby-100.html, abrufbar bis 24. November). Das Doppelporträt über Rolf und Joachim Kühn, das gleichzeitig eine kluge Kulturgeschichte Deutschlands des vergangenen Jahrhunderts ist, macht eindrücklich klar, was für einen feinsinnigen, offenen und geschichtssensiblen Mann die internationale Jazzszene mit dem Klarinettisten verloren hat.
Nach all der Trauer über die viel zu früh von uns Gegangenen (das gilt auch ausdrücklich für Kühn, der trotz seiner 92 Jahre jünger und neugieriger war als so mancher 18-Jährige): Es geht auch anders, wie Joni Mitchell beweist. Ende Juli trat die 78-Jährige beim Newport Folk Festival auf. Mit diesem Geschenk hat niemand gerechnet – schien es doch sicher, dass man Mitchell nach ihrem im Jahr 2015 erlittenen Gehirn-Aneurysma niemals mehr auf einer Bühne sehen und hören werde. Nicht nur das Konzert war ein Wunder, sondern auch die Tatsache, dass die Mitmusikerinnen und Mitmusiker um Zeremonienmeisterin Brandi Carlile bei „Both Sides Now from Joni Jam at the 2022 Newport Folk Festival“ vor lauter Rührung überhaupt noch ihre Instrumente und Mikrofone bedienen konnten (https://www.youtube.com/watch?v=jxiluPSmAF8). Welche revolutionäre Wirkung die junge Joni Mitchell mit ihren radikal ehrlichen Songs über ihr Liebesleben seinerzeit entfaltete, fassen die Dokumentation „Hippie Folk Goddess“ (in der Arte-Mediathek bis 23. November) sowie die Serie „1971: Das Jahr, in dem Musik alles veränderte“ (Folge vier, Apple TV+) gut zusammen. Sie war und ist nun mal das einzig wahre Beastie Girl des Pop, Jazz und Folk.