Binge-Jazz, Folge 20 (Oktober 2022)

Was schauen, was lassen? Jazz- und Serienjunkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Vor etwas über 40 Jahren wagte der US-amerikanische TV-Privatsender A&E Ungeheuerliches. Er strahlte eine Serie über Wesen aus, deren Existenz noch erstaunlicher erschien als etwaige Alien-Bruchpiloten in der Area 51: Frauen im Jazz. Es gibt sie wirklich, manche von ihnen spielen sogar Instrumente – und das auch noch unfassbar gut! Zum Glück überbrachte jemand so Verständnisvolles wie Marian McPartland diese beunruhigende Nachricht. Die Contenance, mit der die selbst von der Missachtung der männlichen Erdlinge betroffene Pianistin (O-Ton Leonard Feather: „Sie wird nie Erfolg haben – sie ist englisch, weiß und eine Frau“) durch die Folge „Women in Jazz – The Instrumentalists“ (Folge 1/1: https://www.youtube.com/watch?v=XLCcQvboXig, Folge 1/2: https://www.youtube.com/watch?v=6mMpgx_fTrw) führt, ist wirklich bewundernswert. Stets ist sie darum bemüht, das alles als völlig normal darzustellen: die Posaunenkünste von Melba Liston etwa oder der bluesig-packende Saxofonton von Willene Barton, der irrsinnig virtuose Boogie-Woogie einer Martha Davis oder der vibrierende Fusionjazz von Alive!, einer reinen Frauenband. Mit einer fabelhaften all-women’s band hatte die ganze Geschichte auch schon angefangen, 1937, als die International Sweethearts of Rhythm gegründet wurden. Was anfangs als Jahrmarkts-Kuriosität betrachtet wurde – Frauen an Blasinstrumenten und am Schlagzeug statt als Sängerinnen – stellte sich ziemlich schnell als eine äußerst präzise Bigband heraus. Die Pianistin Joanne Brackeen dient in der 1981 ausgestrahlten Serie dann als gelungenes Beispiel für die Entwicklung, die die Instrumentalistinnen im Jazz nehmen durften: Sie sei inzwischen dazu in der Lage, eine Karriere als ernstzunehmende Musikerin in Konzerthallen und Clubs überall auf der Welt zu verfolgen, lobt McPartland. Dass Brackeen schon viel früher diesen Weg hätte einschlagen können, wird allerdings verschwiegen. Nach der Heirat mit dem Saxofonisten Charles Brackeen musste sich die Pianistin für mehrere Jahre komplett von der Bühne verabschieden, um die gemeinsamen Kinder großzuziehen. Ein Mann macht so etwas natürlich nicht.

Wer jetzt aber angesichts einer Vielzahl bemerkenswerter Gegenwarts-Jazzmusikerinnen oder geschlechtersensiblen Festivals denkt, dass sich die Situation gottlob geändert habe, kann sich gerne mal die Arte-Kurzdokumentation „Wo sind die Frauen im Jazz?“ anschauen (https://www.arte.tv/de/videos/107342-032-A/wo-sind-die-frauen-im-jazz/). Im deutschen Jazz liegt der Frauenanteil bei 20 Prozent – und diese setzen sich zu 88 Prozent aus Sängerinnen und zu 12 Prozent aus Instrumentalistinnen zusammen. „Man denkt, dass man zehn Mal so gut spielen muss wie die Jungs, damit man überhaupt akzeptiert wird“, sagt die Gitarristin Mandy Neukirchner. „Musikerinnen werden in erster Linie als Frauen wahrgenommen“, konstatiert die Soziologin Marie Buscatto. Séverine Cappiello, Organisatorin des paritätisch besetzten Festivals „Jazz à la Petite France“ in Straßburg, wiederum sieht das Problem der mangelnden Sichtbarkeit in den XY-chromosomal dominierten Medien: „Männer sprechen oft nur von anderen Männern“, glaubt sie. Da bin ich mir zwar nicht so sicher, aber Fakt ist: Es bleibt schwierig.

Ganz einfach war die Lage hingegen für eine junge Frau wie Ivone Dìas im Portugal der 1950er Jahre, wenn sie sich mit dem Gedanken trug, öffentlich Fado singen zu wollen. Das gehöre sich nicht, entschied der für ihre Erziehung zuständige Onkel. Basta! Und auch als sie heiratete, gab ihr Mann ihr zu verstehen, dass sie das mit der Musik doch bitte lassen solle, weil sie so schwach und so krank sei. Worüber sie dann tatsächlich krank wurde – und heimlich im Spital auftrat, wie sie verschmitzt berichtet. Viele Konzerte sollten noch folgen, aber erst, als Ivone Dìas Witwe wurde und die Tochter sie darin bestärkte, endlich ihrem Lebenstraun wahrzumachen. Die inzwischen über 80-jährige Fadista ist nun eine der beiden Hauptdarstellerin des Films „Fado – Die Stimmen von Lissabon“, der seit Mitte September in den deutschen Kinos läuft. Während die lebenslustige Dìas die ursprüngliche Tradition des Fado repräsentiert, verfolgt die zweite Protagonistin der Dokumentation von Judit Kalmár und Céline Coste Carlisle einen moderneren Ansatz. In der Musik von Marta Miranda haben auch Elemente wie Bossa und Jazz ihren Platz; im Publikum ihrer Bar „Tasca Beat“ befinden sich viele jüngere Leute. So eindringlich auch die Liedvorträge von Dìas, Miranda und ihren hervorragenden Gitarrenbegleitern sein mögen – die Musik ist in dem Film eher Mittel zum Zweck. Es soll nämlich auf eines der drängendsten urbanen Probleme der Gegenwart hingewiesen werden – der entfesselte Wohnungsmarkt und die zunehmende Airbnbisierung in Städten wie Lissabon, die zu einer Verdrängung der ursprünglichen Einwohner und ihrer Kultur führt. „Wir sind Nebendarsteller in unserem eigenen Film“, kommentiert Miranda die Tatsache, dass sie ihre Bar schließen muss, weil ein ausländischer Investor Anspruch auf das Gebäude erhebt. Leider gewinnt die Dokumentation nicht genügend Tiefe, dass man schlauer aus ihr herausgehen würde als aus der konfusen Sitzung einer sympathischen Bürgerinitiative zur Rettung des örtlichen Kulturcafés. Und wer etwas mehr über die Hintergründe des Fado erfahren will, ist mit der WDR-Produktion „Wir alle haben Amália im Blut“ über die legendäre Fadista Amália Rodriguez (abrufbar in der ARTE-Mediathek unter https://www.arte.tv/de/videos/095824-000-A/wir-alle-haben-amalia-im-blut/) möglicherweise besser beraten.

Zur Ehrenrettung der Frauen sei gesagt: Sie können selbstverständlich genauso sinnlose Dinge tun wie ihre männlichen Artgenossen. Zum Beispiel: Sich in einen Kleiderschrank hocken und dort auf einem Mini-Keyboard ein John-Coltrane-Solo in einem Affenzahn nachspielen. Die französische Keyboarderin Domitille Degalle hat das gemacht („DOMi Closet Practice: Countdown by John Coltrane“ https://www.youtube.com/watch?v=ImE73m2ZhGk) – und es ist herrlich bescheuert. Ähnlich seltsame Clips, die sie unter ihrem Künstlernamen DOMi gemeinsam mit dem texanischen Schlagzeuger JD Beck auf den einschlägigen Social-Media-Kanälen veröffentlicht hat, haben ihre Wirkung anscheinend nicht verfehlt. Das Duo wird mittlerweile selbst von männlichen Kritikern als Zukunft des Jazz bezeichnet. Domi & JD Beck verfügen schließlich über alles, was man im Mediengeschäft heutzutage braucht: Sie sind bis zum Anschlag talentiert, ein wenig genderfluide und seeehr instagrammable. Während mir ihre Kurzvideos nicht wirklich zusagen, da sie mir wie TikTok-Jazz zum Wegwischen und schnellen Vergessen vorkommen, kann ich ihren längeren Beiträgen durchaus etwas abgewinnen. Ich mag es etwa, dass DOMi im Video zu dem mit Anderson Paak entstandenen „Take a Chance“ (https://www.youtube.com/watch?v=jJVe_6N8cLY&t=1s) in der Biografie von Herbie Hancock blättert (Min 2:56), der ja auch Fan der beiden ist und auf ihrem Debütalbum mitgespielt hat. Und wer die beiden in einem musikalisch nahrhafteren Kontext erleben will, dem sei ihr Auftritt in der Konzertreihe eines bekannten Schlagzeugbecken-Herstellers empfohlen („Zildjian LIVE! – JD Beck (featuring DOMi)“, https://www.youtube.com/watch?v=NCnrYD9HaRg). In der von Snarky-Puppy-Drummer Robert „Sput“ Searight konzipierten Serie gibt es ohnehin immer wieder ein paar schöne Entdeckungen zu machen. So etwa die kanadische Schlagwerkerin Sarah Thawer („Zildjian LIVE! – Sarah Thawer“, https://www.youtube.com/watch?v=cN6PmWnLjRE), die höchst energetisch Fusionjazz mit indischen Einflüssen mischt. Und in ihrem Solo dank des Einsatzes albern anfeuernder Sprachsamples die Männer mit einem ungeheuren Tabubruch das Fürchten lehrt: Ja, auch Frauen können Humor haben!