Binge-Jazz: Was soll das?

Nicht erst seit dem erzwungenen Rückzug auf die Couch durch Corona verschlägt es den Jazz-Fan immer öfter vor den TV- , Tablet-, Laptop- oder Smartphone-Bildschirm: Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime haben hervorragende Dokumentationen über große Persönlichkeiten der improvisierten Musik im Programm und produzieren inzwischen sogar eigene Jazz-Serien oder -Spielfilme („The Eddy“, „Ma Rainey’s Black Bottom“). In den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender tauchen immer wieder bemerkenswerte Jazz-Filme auf. Und dann wären da noch junge Bands wie Snarky Puppy oder Vulfpeck, die erfolgreich die Bewegtbild-Möglichkeiten des Netzes nutzen, um via YouTube & Co. Millionen Nutzerinnen und Nutzern ihre Musik näherzubringen. Nicht zu vergessen die unzähligen Haustiere, deren Freejazz-Klavierspiel sie zu viralen Berühmtheiten gemacht hat.

In der Rubrik „Binge-Jazz“ stellt Serien- und Jazz-Junkie Tony Alto, ein entferntes Mitglied des Soprano-Clans, einmal im Monat Filme, Serien oder Video-Absonderlichkeiten aus dem Ozean des Jazz und seiner Genre-Abkömmlinge vor. Es geht um bewegte und bewegende Bilder, die es wert sind, aus dem großen Stream gefischt zu werden. Um zu inspirieren, hin und wieder ein Stirnrunzeln zu provozieren – oder ganz einfach zu beglücken. Let’s binge!

Binge-Jazz, Folge 2

Was schauen, was lassen? Serien- und Jazz-Junkie Tony Alto fischt Schätze, Schmankerl und Sonderbares aus dem großen Stream.

Zerfressen von inneren Dämonen, wankend, ihren Mitmenschen ein großes Rätsel. Nein, ich rede hier nicht von den Fußballern des einst ruhmreichen FC Schalke 04, sondern von Jazzmusikern im Film. Sie nehmen für gewöhnlich kiloweise Drogen, betrügen ihre Partner nach Schuss, Strich und Faden und leben nur auf, wenn sie fiebrig mit ihrem Instrument auf offener Bühne ringen. Nicht so jedoch in Eugene Ashes 2020 veröffentlichtem Spielfilm „Sylvie’s Love“ (in Amazon Prime Video enthalten). Zur Abwechslung wird der Jazz mal nicht als eine Schrulle behandelt, die genauso genialisch wie gefährlich ist. Im Gegenteil: Den Figuren gehen Worte wie „Quintolen“ genauso leicht über die Lippen, wie sie selbstverständlich wissen, in welcher Besetzung Sonny Rollins‘ „Way Out West“ aufgenommen wurde. Und auch das durchgenudelte Schema „boy meets girl“ wird hier abgewandelt in: Schüchterner junger Mann trifft aufgeweckte junge Frau und kauft ihr Monks „Brilliant Corners“ ab. Hach, es ist ein Traum.

Aber auch ein wenig Realität. Autor und Regisseur Ashe wollte sich vor dem Harlem der 1950er Jahre verbeugen, in dem seine aus der Mittelschicht stammenden Eltern eine Familie gründeten. Seine Mutter und sein Vater geben auch lose die Vorbilder für seine Hauptfiguren ab – die extrem musikbewanderte Sylvie (Tessa Thompson) aus wohlbehütetem Haus, die 1957 einen reichen Arztsohn heiraten soll, und der scheue Tenorsaxofonist Robert (Nnamdi Asomugha). Sie lernen sich kennen im Schallplattengeschäft von Sylvies Vater, zur großen Liebe wird es während eines seelenvollen Balladenvortrags auf dem Saxofon im Jazzclub (Mark Turner leiht Robert im Film seine Tenorstimme).

Das ist aber kein kuhäugiges Anschmachten. Es ist vielmehr so, dass die selbstbewusste Sylvie in diesem Moment einen Seelenpartner in dem solierenden Robert erkennt: Einen, der sich mit voller Aufmerksamkeit und ganzem Herzen einer Sache widmet, die er liebt. Bei ihm ist es die Musik, bei ihr ist es das Fernsehen und der Wunsch, TV-Produzentin zu werden. Allein: Ihrem Glück steht vieles im Wege. Karriere. Falsche Eitelkeiten. Nicht zuletzt die Ehe mit einem anderen Partner, was ja immer eher schlecht ist.

Ashe inszeniert das nicht wie ein realistisches trauriges Drama, sondern wie einen Hollywood-Unterhaltungsfilm aus den frühen 1960er Jahren. Er wollte in den Spuren von „Frühstück bei Tiffany“ wandeln, gibt der 55-Jährige unumwunden zu – „allerdings mit schwarzen Charakteren“. Schwelgen ist also durchaus erlaubt: tolle Autos, klasse Kleider, anbetungswürdige Erstpressungen. Es ist ein bisschen wie „Mad Men“, nur mit weniger Suff und Sex.

Sylvie’s Love“ ist fraglos eine ziemliche cleane Angelegenheit. Selbst die Pfützen auf den Straßen wirken so, als habe sie ein eigens dafür eingestellter Regengussdesigner sorgfältig konzipiert. Der Film verschließt vor Rassismus und der Bürgerrechtsbewegung zwar nicht komplett die Augen, benutzt diese Themen aber eher als kurze Irritation beim Abendessen oder als coole Kulisse. Gleichwohl: Dank seiner starken emanzipierten Protagonistin wirkt die Geschichte nicht altbacken. Und trotz seiner begrenzten schauspielerischen Möglichkeiten ist Nnamdi Asomugha als Musiker tausend Mal überzeugender als Ryan Gosling in „La La Land“ – was auch an dem tieferen Jazzverständnis liegen dürfte, das „Sylvie’s Love“ an den Tag legt.

Um Verständnis und vor allem Verständlichkeit geht es auch bei einem Instrument, das ich durch Zufall wiederentdeckte, als ich die Netflix-Serie „Song Exploder“ anschaute. In dem vom US-Filmkomponisten Hrishikesh Hirway ursprünglich als Podcast entwickelten Format werden mehr oder minder berühmte Songs auseinandergenommen und gemeinsam mit den Urhebern (unter anderem R.E.M., Alicia Keys oder Dua Lipa) analysiert. Trotz der unvermeidlichen Plattitüden vonseiten der Stars fördert Hirway immer wieder etwas Interessantes aus den Untiefen der Lieder zutage. Im Falle von Ty Dolla $igns „LA“ ist das zum Beispiel der Einsatz einer Talkbox. „Dieses einzigartige Instrument öffnet einem Tür und Tor zu Freude, Liebe und dem Leben selbst“, schwärmt der HipHop-Produzent Battlecat, der für Ty Dolla $ign den für die Talkbox charakteristischen Schlauch zwischen die Lippen nahm. Dieser leitet ein akustisches Signal in den Mundraum, wodurch die angeschlossene Klangquelle zum Singen gebracht werden kann. Die Gitarristen Jeff Beck und Peter Frampton waren die Ersten, die der Talkbox in den 1970ern zu einem gewissen Ruhm verhalfen. Ich kenne das Ding aber eher in Kombination mit einem Keyboard dank des großartigen und viel zu früh verstorbenen Roger Troutman (hier demonstriert er, wie er die Talkbox nutzt: https://www.youtube.com/watch?v=L_CBZkd2tGE). Erstaunlich finde ich es, dass der funky Laberkasten im Jazz bislang ein Schattendasein führte. Die prominentesten Beispiele, die einem einfallen – Herbie Hancocks synthetischer Gesangsplatte „Sunlight“ von 1978 oder die Sachen im Umfeld von Robert Glasper (wie just das Live-Album seiner Band „R+R=Now“, auf dem Terrace Martin mit Roboterstimme zu hören ist) – sind Mogelpackungen. Dort kommt nämlich ein Vocoder zum Einsatz, der deutlich einfacher zu bedienen ist. Ach, genug gelabert. Lorenz Rhode, Leiter des für Jan Böhmermann tätigen Rundfunk-Tanzorchesters Ehrenfeld, kann viel tanzbarer erklären, was es mit der Talkbox auf sich hat: https://www.youtube.com/watch?v=h_L5v9OTSxc.

Der neue Teil der James-Bond-Saga ist jetzt schon rekordverdächtig: Er ist der Film, dessen Kinostart am öftesten verschoben werden musste, weil der Agent jeden besiegen kann, nur das neuartige Coronavirus nicht. Der Altsaxofonist Lorenz Hargassner und sein Quartett Pure Desmond wollten nicht mehr länger warten und drehten ihren eigenen James-Bond-Thriller – und zwar in 2970 Metern Höhe auf dem Schilthorn in den Berner Alpen, wo der glatzköpfige Bösewicht Ernst Stavro Blofeld 1969 in „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ ein Forschungslabor betrieb. Er wollte die ganze Welt mit einem Krankheitserreger verseuchen. Was für eine wahnwitzige Vorstellung! Hargassner und seine tapferen Mannen (hier das Video: https://www.youtube.com/watch?v=vFwssi_RfY0&feature=youtu.be, und hier noch etwas mehr Hintergrundinfos im Rahmen der noch bis 7. April abrufbaren dritten „Late Sommer Jazz“-Folge auf Arte: https://www.arte.tv/de/videos/099344-003-A/late-summer-jazz-3-5/?fbclid=IwAR0_ZXQuBXNKOTeDoQbsHOSJByCBNzQ4MquK4ISpSB9x8XbsouBtLZPGkuY) sind aber nicht die einzigen Improvisationsmusiker oder -musikerinnen, die hoch hinaus wollten. Mir fällt da gleich der unvergessliche Michel Petrucciani ein, der von seinem ebenso schmerzlich vermissten Freund Roger Willemsen 1995 samt Flügel auf das Dach eines New Yorker Hochhauses verfrachtet wurde, um seinen Song „Looking Up“ zu spielen (den Clip gibt es hier https://www.youtube.com/watch?v=hJfkyMCOsl4, verbunden mit der dringenden Empfehlung, sich die Petrucciani-Dokumentation „Leben gegen die Zeit“, u.a. auf Amazon Prime Video, anzusehen). Die Idee ist einfach zu gut: Petrucciani, der aufgrund der Glasknochenkrankheit Zeit seines Lebens immer nach oben schauen musste (deswegen auch der Titel „Looking Up“), schaut endlich einmal auf alle herab. Nach dem Dreh stürmte übrigens die Polizei das Dach, weil besorgte Bürger aus den umliegenden Hochhäusern glaubten, bei dem von einem Hubschrauber umkreisten Petrucciani handele es sich um einen Terroristen. Ein internationaler Bösewicht, Erkennungszeichen Steinway-Flügel – auf so eine irre Idee ist noch nicht mal Ernst Stavro Blofeld gekommen.

Apropos Glatze: Vor wenigen Wochen durften die Friseursalons wieder aufmachen! Niemanden stößt das jedoch mehr ab als Kenny G, den Blofeld des Smooth Jazz. Das lässt sich zumindest „Michael Bolton’s Big Sexy Valentine’s Day Special“ auf Netflix entnehmen. Dort kommt es zu einem denkwürdigen Duell, in dem ungebändigte Locken, Stimmbänder, qualmende Sopransaxofone und ein triefender Wischmob eine Rolle spielen (das Wichtigste wurde hier zusammengefasst: https://www.youtube.com/watch?v=1tmQAi7i3AM). In diesem Sinne: Passt gut auf eure Katzen auf!