Über den Tellerrand

Es sind nicht immer die Journalisten, die unseren Horizont erweitern. Manchmal ist es gut, diejenigen zu fragen, um die es eigentlich geht in unserer Branche. Immer schon gab es unter Individualisten einen Trend zum Auswandern nach Kanada. Früher galt als Aussteiger, wer zum Bäume-Fällen oder Ausüben eines Handwerks- oder Ingenieursberufs ins Land der großen Weite umsiedelte. Unter Musikern war das nie so trendy. Umso interessanter könnte es sein, was Torsten Müller, improvisierender Musiker und deutscher Einwanderer in Vancouver, über das jazzahead!-Gastland dieses Jahres zu sagen hat: Kanada. 

 

20 Jahre West-Coast – ein Leben im kanadischen Jazz

Von Torsten Müller 

Als ich vor genau 20 Jahren in meine Lieblingsstadt Vancouver an der kanadischen Westküste zog, wusste ich nichts über die kanadische Szene, geschweige denn die musikalische Landschaft westlich der Rocky Mountains. Ich hatte mir als junger angehender Improvisationsmusiker in den 70er Jahren durch den FMP-Vertrieb hochgradig interessante Platten von Leuten wie Lloyd Garber, Casey Sokol und Eugene Chadbourne, Bill Smith und Maury Coles besorgt und mich immer wieder gewundert, warum diese großartigen und innovativen Musiker in den USA oder Europa nicht die geringste Beachtung fanden. Die Ursache für diese mysteriöse Verschwörung und musikalische Ungerechtigkeit wurde mir erst nach meinem Umzug an die Westküste in vollem Umfang verständlich. Kaum ein europäischer Kritiker oder Festivalveranstalter wagt sich auf seinen Dienstreisen weiter westlich als New York – und wenn, dann höchstens einmal nach Chicago. Musiker in Vancouver, Seattle und L.A. sind schon seit Jahrzehnten daran gewöhnt, von der Jazz-Presse ignoriert zu werden. Aus diesem Grund liegt der Fokus hier hauptsächlich auf der eigenen Community und der Entwicklung von autonomen Überlebensstrategien.

Als ich in Vancouver ankam, war ich eigentlich darauf gefasst, dass mein musikalischer Lebensmittelpunkt weiterhin in Europa oder eventuell Chicago liegen würde. Weit gefehlt: Hier entdeckte ich eine neue, musikalisch spannende und abenteuerliche Heimat, eine hochoriginelle Szene um Musiker wie die Ausnahme-Cellistin Peggy Lee, den brillanten Schlagzeuger Dylan van der Schyff, den Piano-Magier Paul Plimley und den umtriebigen Gitarristen Ron Samworth. Musiker, die nicht alljährlich mit neuen Projekten auf die Euro-Festivallandschaft schielen, sondern über Jahre hinweg beharrlich und selbstbewusst völlig eigene musikalische Identitäten entwickelten, mit großer Unterstützung einer eingeschworenen lokalen Fangemeinde.

Ähnlich wie die Musique-Actuelle-Szene Quebecs um Lori Freedman, René Lussier, Jean Derome und Ida Toninato hat die Westküste ihren eigenen, unverkennbaren Sound. Große Gruppierungen wie das NOW Orchestra um die Pianistin Lisa Kay Miller oder das Projekt Dogs Do Dream von Ron Samworth zeugen von der kompositorischen Vielfalt und Originalität der Szene. Aber deren eigentliche Stärke zeigt sich in den vielen Improvisations-Ensembles, die man fast jeden Abend in mehreren, von Musiker-Kooperativen betriebenen Venues wie 8East, China Cloud oder Gold Saucer hören kann. Nimmt man die Zahl der hochkarätigen Musiker und Spielstätten zum Maßstab, kann man durchaus behaupten, dass Vancouver nach New York und Chicago die lebendigste und musikalisch stärkste Improvisationsszene Nordamerikas vorweisen kann.

Großenteils ist das auf die jahrelange unermüdliche Arbeit des im letzten Jahr verstorbenen Artistic Directors des Vancouver Jazz Festivals, Ken Pickering, zurückzuführen. Über drei Jahrzehnte hinweg hatte er immer wieder für Begegnungen und Kollaborationen der Vancouver-Szene mit internationalen Kollegen gesorgt und damit die qualitativ ständig sich weiterentwickelnde lokale Szene gepflegt und gedeihen lassen. Pickerings Nachfolgerin Rainbow Roberts verfolgt seinen Weg von Austausch und Zusammenarbeit weiter und ist darüber hinaus Vorreiterin in den Bereichen Gender, Inclusiveness und Community.

Zum Glück zählt Kanada nicht zu jenen Ländern, in denen an jedem Kulturetat rabiat gespart wird. Aufgrund der großen Entfernungen ist es ohnehin unmöglich, ohne Unterstützung des Canada Council zu touren. Die nächste Großstadt von Vancouver aus gesehen ist Calgary, etwa 14 Auto-Stunden entfernt und im Winter unerreichbar. Das geht nur per Flugzeug, und kein Gig spielt derartige Reisekosten ein. Wenn eine große Truppe wie Peggy Lees Film-in-Music-Projekt quer durch Kanada unterwegs ist, sind die Reisekosten enorm. Das Canada Council ist (fast) immer mit finanzieller Hilfe zur Stelle.

Trotz ihrer zahlreichen internationalen Connections und ihres hohen Ansehens bei Kollegen in aller Welt werden diese Musiker so gut wie nie auf internationaler Ebene präsentiert oder zu den bedeutenden Festivals eingeladen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass man sich seit Generationen daran gewöhnt hat und sehr gut damit lebt. Ein genialer Innovator wie der Pianist Al Neill, der die Szene in den 50er und 60er Jahren aufwirbelte, würde meines Erachtens heute in einem Atemzug mit Sun Ra und Cage erwähnt, hätte er in New York gelebt – und nicht hier, am Ende der Welt.

Der Kontrabassist Torsten Müller ist gebürtiger Hamburger. Er war Mitglied von Ensembles wie der Free Music Communion und dem King Übü Örchestrü und spielte unter dem Namen Carte Blanche mit Günter Christmann. Müller trat weltweit mit Evan Parker, John Russell, Jon Rose, Joëlle Léandre, John Zorn, Arto Lindsay, Alexander von Schlippenbach, Paul Lovens u.v.a. auf und ist seit 2001 Teil der Jazz- und Improvisationsszene in Vancouver, Kanada.