Sebastian Gramss
Die Verbreitung der Helix hat begonnen

© Maurice Graf
Die Helix ist eine zylindrische Spirale. Sie ist rechts- oder linksgängig, es gibt auch die zweigängige Doppelhelix, bekannt geworden als Struktur unserer DNA, also einer grundlegenden Bauform des Lebens. Man kann eine Helix in mathematischen Formeln berechnen und beschreiben – und sie kommt überall vor: in der Technik (etwa als Gewinde an Schrauben) und in der Natur. Jetzt gibt es die Helix auch in der Musik.
Von Hans-Jürgen Linke
Sebastian Gramss, Bassist, Bandlader, Komponist und Musikdenker, hat begonnen, ein spiralförmiges Konzept für die Musik fruchtbar zu machen. „Helix“ ist für ihn ein metrisch-rhythmisches Konzept, nach dem sich Musik – auch improvisierte – organisieren lässt. Dabei geht es in erster Linie um eine elastische Gestaltung von Tempo-Verlangsamung oder -Beschleunigung.
Ein Vorbild waren für ihn die Bilder der Endlos-Treppe oder des Endlos-Wasserfalls des Grafikers M. C. Escher, in denen der erstaunliche Effekt eines physikalisch unmöglichen endlosen An- oder Abstiegs entsteht. Etwas Ähnliches lässt sich auch mit rhythmischen Verläufen herstellen, sagt Gramss. Für die entsprechende Notation hat er ein Zeichensystem und eine Terminologie entworfen, die die Sache für die spielenden Musiker*innen eindeutig macht.
Schlüsselbegriffe sind dabei die Ratio, das ist eine Bruchzahl, die das Verhältnis der primären zur sekundären Zeit definiert; dann die Slope, das ist die Steilheit der Tempoänderung; und schließlich die Mask, die Maskierung, das ist die Zone, in der durch Überlappung verschiedener metrischer Auffassungen des Tempos die fließenden Übergänge maskiert werden.
Was den hörbaren Effekt dieser Gestaltungsweisen anbelangt, spricht er lieber von „Verdichtung“ und „Entschleunigung“ als von den klassischen Kategorien Accelerando und Ritardando. Wer in einem Konzert mit Helix-Musik konfrontiert wird, wird bald hören, warum: Es geht nie nur um Geschwindigkeit, immer sind es auch energetische Zustände, die sich ändern, überlagern, anreichern, addieren oder auslaufen.
Die Helix als musikalisches Prinzip hat Sebastian Gramss, wie er selbst sagt, eher ge– als erfunden, aber ganz so einfach ist das nicht. Denn die Helix funktioniert nicht von allein. Sie braucht spielende Musiker*innen, die ihre Erfahrungen mit ihr gemacht und sie internalisiert haben, um mit dem Prinzip und seinen Komponenten selbstverständlich umzugehen. Dann erwächst aus der Helix eine enorme Bereicherung der Musik und des Spielprozesses.
Sebastian Gramss schreibt seit etlichen Jahren Musik, der das Helix-Gerüst zugrundeliegt. Seit 2022 hat eine wachsende Anzahl von Studierenden, Komponist*innen und Interpret*innen begonnen, das System anzuwenden, in Formationen, die Gramss ins Leben gerufen hat, und längst auch in eigenen Formationen. Man könne, sagt er, in dieses Gerüst alle möglichen Materialien einbringen. Wichtige Teile der bisherigen Entwicklung der Helix-Musik sind jetzt auf drei CDs erschienen. Sie dokumentieren Musik der Meteors und von States of Play. Die dritte CD enthält exemplarische Projekte mit anderen Musikern.
Die Helix funktioniert in beliebig großen Besetzungen und ohne stilistische Einschränkungen. Sebastian Gramss legt Wert darauf, sie als Open Source zu verstehen: Jeder, der Ideen hat, soll damit arbeiten können. Entsprechend hat sich die Idee als kompositorisches und organisatorisches Konzept über den Jazz hinaus in der zeitgenössischen Musik verbreitet. Musiker*innen der Kölner Musikfabrik oder des Frankfurter Ensemble Modern sind inzwischen mit ihr vertraut, und die IEMA (Internationale Ensemble Modern Akademie) in Frankfurt nutzt das Konzept als Lehrmaterial für aktuelle Entwicklungen in der Neuen Musik.
Der Musikwissenschaftler Rainer Nonnenmann von der Kölner Musikhochschule urteilt: „Gute Idee, klares Konzept, gekonnte Umsetzung, aufregendes Hörerlebnis! Inmitten der Routine, die in heutiger Musik vielfach um sich greift, eröffnet Helix endlich wieder neue Gestaltungs- und Ausdrucksweisen.“ Viel Ruhm und Ehre von berufener Seite also.
Aber wie klingt diese Helix-Musik nun? Das war konzentriert im Juni beim Helix-Festival im Kölner Loft zu erleben. Eröffnet wurde das Festival mit einem dokumentarischen Film von Maurice Graf über das Helix-Konzept. Während zweier Festivalabende zeigte sich eine neue Freiheit für die improvisierte Musik, die entstehen kann, wenn Energieströme, dynamische und rhythmische Prozesse nicht allein der Spontaneität, einem Groove und der hörenden Intuition der Musiker*innen überlassen sind, sondern strukturiert und organisiert werden. Auch wenn es auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mag, dass Struktur und Organisation ein größeres Maß an Freiheit zur Folge haben können.
Eine besondere Eigenschaft des Helix-Konzepts scheint darin zu liegen, dass es die spielenden Musiker*innen nötigt, intensiv aufeinander zu hören und zu reagieren. Die zentrale Tugend und Spielhaltung der freien Improvisation wird so durch die neue Tempo-Notation nicht geschmälert – im Gegenteil. Wer genau verfolgen will, was da rhythmisch, metrisch, in Überlagerungen, Maskierungen oder plötzlichen Wechseln geschieht, wird vielleicht ein wenig Zeit brauchen, um sich einzufinden. Aber man kann auch einfach hören und staunen, wie magisch einen diese komplexe Musik in den Bann ziehen kann.
Aktuelle Alben:
Meteors: Helix Protocol I
States of Play: Helix Protocol II – Live in der Kölner Feuerwache
Various Artists: Helix Protocol III (verschiedene Projekte, u.a. mit Fred Frith und Aufnahmen vom Helix-Festival Juni 2025)
(Alle: rent a dog / Al!ve)