GANNA
Mitten ins Herz
Mit ihrer neuen Platte Utopia hat sich die ukrainische Sängerin, Komponistin und Produzentin GANNA einen Wunsch erfüllt und sowohl die Musik als auch ihre musikalischen Gäste ausgesucht wie für eine Pralinenbox. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Liebeserklärung an ihre Heimat.
Von Verena Düren
In Deutschland lebt GANNA (Ganna Gryniva) bereits, seit sie 13 Jahre alt ist – und fühlte sich damals wie ein Fremdkörper: „Die deutsche Gesellschaft war ganz anders als die ukrainische Gesellschaft. Die sozialen Codes, die es hier gab, waren mir neu und völlig fremd“, erinnert sie sich. Hinzu kam, dass sie in der Ukraine von ihren Eltern zu Hause unterrichtet worden war, so dass sie in Deutschland erstmals eine Schule besuchte. „Ich habe damals dann einfach nur die Regeln und Vorgaben, die man mir machte, befolgt. Auch wenn ich sie teils nicht verstanden habe. So habe ich die Schulzeit gut überstanden, aber mit mir hatte das nicht viel zu tun.“ In eine musikalische Familie geboren mit einer klassischen Pianistin als Mutter, stand für GANNA jedoch schon früh fest, dass sie singen wollte, was sie auch in der Schulzeit viel tat. „An eine professionelle Musikkarriere habe ich allerdings zunächst nicht gedacht, sondern zunächst in Leipzig Politikwissenschaft und African Studies studiert.“
Ihr Erasmus-Jahr führte GANNA zurück in die Heimat, was sich als Wendepunkt herausstellen sollte: „Ich blieb am Ende ein Jahr in Kiew und habe wahnsinnig viel Musik gemacht. Als ich wieder zurück nach Deutschland kam, war für mich völlig klar, dass ich Musik machen musste – und das vollkommen unabhängig davon, ob ich davon würde leben können. Es war eine ganz klare Sache, dass ich das würde tun müssen.“ So schrieb sie sich in Weimar ein und studierte unter anderem bei Michael Schiefel, Jeff Cascaro und Frank Möbus. „Über meine Mutter war ich natürlich sehr von der Klassik geprägt. Wir haben in meinem Elternhaus nur Klassik gehört. Aber ich habe gemerkt, dass mich der Jazz, gerade wenn die afroamerikanische Tradition sehr deutlich hörbar ist, so berührt wie nichts anderes.“
Klar war nach den zwei Semestern in Kiew aber auch, dass GANNA die traditionelle Musik ihrer Heimat in ihre eigene einbauen wollte. So machte sie sich mit dem Dokumentarfilmer Peter Bräunig auf den Weg in die verschiedenen Regionen der Ukraine, um die traditionellen Lieder zu finden und aufzuzeichnen: „In dem Film kommen die Menschen vor, die das Herz meiner Musik sind“, so GANNA. Dabei entstanden auch Field Recordings, die auf Utopia immer wieder in den Stücken zu finden sind, beispielsweise die Stimme einer älteren Frau, die sie fragt, warum sie denn eine alte Frau aufzeichne statt eines jungen Mädchens.
Ihren Stil bezeichnet GANNA als Elektro-Folk mit Improvisation, ergänzt um viele andere Elemente wie natürlich Jazz, Singer-Songwriter-Anklänge sowie Indiepop. Bei Utopia hat sie sich besonders viele Freiheiten erlaubt: „Ich bin auch von den Hörgewohnheiten ausgegangen, die wir heutzutage haben“, so GANNA. „Heutzutage hört man kaum noch ein ganzes Album durchgehend, so dass die Musik auch so facettenreich und unterschiedlich sein durfte, dass man sonst vielleicht drüber stolpern würde.“
Nicht nur in der Musik hat sie sich viele Freiheiten erlaubt, sondern hat auch als Gastmusikerinnen und Gastmusiker zahlreiche Wunschmenschen um sich versammelt. „Laura Robles habe ich über das Humboldtforum in Berlin kennengelernt und habe immer schon die starken Rhythmen bewundert. Maksym Berezhnyuk spielt über 100 traditionelle ukrainische Flöten. Er ist bei ,Carpathians‘, ,Malanka‘ und ,Mother‘ stark vertreten.“ Neben diesen beiden ist mit Marian Friedl ein tschechischer Zymbal-Spieler dabei, ebenso Julian Sartorius und Andi Haberl am Schlagzeug, Ambrose Akinmusire an der Trompete und Bertram Burkert an der Gitarre. In den neun Tracks der Platte hört man die verschiedenen Musikerinnen und Musiker in der Regel aber nicht zusammen – stattdessen hat GANNA sehr genau ausgewählt, zu wem welches Stück passt.
Durch die Lieder zieht sich die Verbindung zu ihrer Heimat wie ein roter Faden, so ist „Mother“ beispielsweise die Liebeserklärung einer Tochter an die alleinerziehende Mutter und steht für die starken Frauen in der ukrainischen Gesellschaft, die nicht selten in den Familien das Oberhaupt darstellen.
„Zemlya“, basierend auf einem Gedicht von Grigory Semenchuk, beschreibt das Leben in der Ukraine in Kriegszeiten: „Ich habe sehr lange für die Musik gebraucht, weil der Text so wichtig ist. Ich finde es sehr schwierig, Worte zu finden für den Krieg in der Ukraine, aber diese haben mich mitten ins Herz getroffen.“ Auch sonst ist „Zemyla“ für sie ein Meilenstein, spielt sie hier doch erstmals auf einer Platte auch Gitarre. Das letzte Stück, „Mann im Mond“ nach einem Text von Mascha Kaléko, hat sie bewusst als deutsches Gedicht gewählt: „Auch das ist ein Teil von mir. Ich lebe schon lange in Deutschland. Es gibt eine ganze Generation wie mich: Menschen, die Teil einer neuen Gesellschaft wurden, aber immer noch zur alten gehören. Das ist ein wichtiger Teil meiner Identität.“
Aktuelles Album:
GANNA: Utopia (Berthold / Cargo)



