Anne Paceo

Zwischenweltenwand(l)erin

ANNE PACEO
Paris 2021

Mit S.H.A.M.A.N.E.S. begibt sich die französische Komponistin Anne Paceo, die zunächst als Funksouljazz-Schlagzeugerin von sich reden machte, auf eine mal introspektive, mal extrovertierte, immer aber von höchsten Ansprüchen beseelte Reise durch das innere Selbst, die ihre musikalische Entsprechung in einem Spektrum findet, das von Exorzismuspraktiken aus Bali über Voodoo-Zeremonien aus Haiti und Weissagungslieder aus Sibirien hin zu Besitzritualen der brasilianischen Candombe reicht.

Von Victoriah Szirmai

Geprägt durch schamanische Gesangspraktiken, nimmt die an der Elfenbeinküste Aufgewachsene die Rolle der Vermittlerin zwischen den Welten der Menschen und der Geister ein. „Ich wusste ganz genau, was ich wollte“, gibt die 38-Jährige in Bezug auf ihr siebtes Album zu Protokoll. Nämlich Hals über Kopf eintauchen in die vokalen und perkussiven Möglichkeiten ihrer Musik, wobei das eine nicht immer trennscharf vom anderen auseinanderzuhalten ist. Etwa beim Opener „Wide Awake“, der mit seinem geloopten Vokalgrund den Rhythmus vorgibt, bevor sich ein Midtempo-Stampfbeat dazugesellt. Über ihm blüht ein melismatischer Refrain, bevor zum Schluss zerbrechlich-schöne Songwriterzeilen hinzukommen. Im Grunde kann man Paceo und ihrer aus Isabel Sörling und Marion Rampal (voc), Christophe Panzani (sax, cl), Tony Paeleman (keyb) und Benjamin Flament (metallophone) bestehenden Band dabei zuhören, wie der Song Schicht um Schicht aufgebaut wird – ein Charakteristikum, das sich durch die ganze Platte zieht.

Auch auf „Here and Everywhere“ baut sich der Kern des Songs um taktsetzende Vokal-Loops auf, bevor alles andere folgt – hier in der Art eines spirituellen Wiegenlieds für die Welt, das etwas Besänftigendes, Friedenbringendes an sich hat, gegen Ende aber auch noch einmal mit vollem Bandeinsatz durchrüttelt. „Reste un oiseau“ übernimmt mit beschwörender Stille, die lediglich von einer Art Windspiel durchdrungen wird, dem man gern an einem Regentag vom Bett aus lauschen möchte, bevor magische Klänge mit langem Nachhall in den Vordergrund treten, die von der von Paceo gespielten Kamele ngoni stammen. Diese bilden gemeinsam mit dem tiefen Echo der Bassklarinette einen perfekten Resonanzraum, der offen ist, Bilder sehen macht und inspiriert. Das schraubend-hypnotische „Piel“ setzt auf behutsame Mehrstimmigkeit, bevor es mit dem schon vom Opener bekannten Drecksbass aufwartet, der nach verzerrter Elektronik klingt, aber – wie das gesamte Album – rein akustisch sein soll, um sich wieder im A-cappella-Klang aufzulösen. Langweilig, das steht hier schon fest, sind diese Songs mit Sicherheit nicht.

Wo auf „From the Stars” zarte Vokaltupfer weidlich mit dem Stereoeffekt spielen, bis sie Gesellschaft von Bassklarinette und einer tiefergelegten Trommel bekommen, die aufgrund des gewaltigen Echos größer klingt als alles, was man sich so unter einer herkömmlichen Bassdrum vorstellt, setzt die Pianoballade „Mirages“ auf Regenzauber, denn anders lässt sich das zarte Klinge(l)n der Chimes hier nicht beschreiben. Ein nahezu herkömmliches Saxofonsolo bringt das Ganze in gefährliche Nähe von Smooth-Jazz-Gefilden, was von einer sich die Seele aus dem Leib brüllenden Paceo indessen verhindert wird, die letzten Endes auch die Band mitreißt, eine Gewitterfront zusammenzubrauen, in der sich die Vocals final entladen können.

Und während sich zu Beginn von „Wishes“ ein präpariertes Klavier in endlosen Repetitionsschleifen ergeht, über die Paceo eine liebliche Gesangslinie legt, unterbrochen nur dann und wann von einem wild gewordenen Drumset, ist es das Klavier, das überraschend in den Jazzclub entführt, der hier erstmalig in der Plattentopographie aufscheint, sich aber spätestens dann endgültig manifestiert, wenn das jetzt so gar nicht mehr smoothe Saxofon zu einem Solo abhebt. Toll! Das gilt auch für „Healing“ mit seiner von Ferne bekannt erscheinenden Melodie, die einen gleich fest in ihren Klauen hat und nicht mehr so schnell loslässt, derweil das energetisch-vorwärtstreibende „L’aube“ richtiggehend befreiend wirkt.

Der fesselnde Beat von „Travellers“, der sowohl den Galeeren, einer We-will-rock-youMeute als auch einer rituellen Versammlung entsprungen sein könnte, zwingt zum Mittun. Das zunehmend hypnotischer werdende „Dive into the Unknown“ übersetzt das Ganze im Stile eines – wenngleich ungewöhnlich besetzten – Pianotrios wieder ins Jazzidiom, und der Hörer fühlt sich nicht nur angenommen, sondern auch angekommen in einer musikalischen Sprache, die ihm vertraut ist, bevor Paceos heiserer Endhauch, der ein bisschen spooky ist, wieder in fremde Welten entführt. Erst der klanglich konventionelle Closer „Marcher jusqu’à la nuit“, der an World-Fusion à la Sting gemahnt, hebt die Spookyness und damit dieses Fremdeln mit einer oft ungewohnten, nie aber wirklich unbequemen Musik wieder auf.

Ja, vieles ist unvertraut auf S.H.A.M.A.N.E.S., und doch lässt es sich auf einer universalmenschlichen Ebene fast immer nachempfinden, wenn das Vokale und das Perkussive – genauer: die Energie sakraler Lieder und Trance-Drums – an ein zeitloses Kollektivgedächtnis appellieren, um es zu erinnern, dass man selbst Teil dieses immerwährenden, seit Urzeiten bestehenden, nie abreißenden Stroms ist.

Aktuelles Album:

Anne Paceo: S.H.A.M.A.N.E.S. (Drumzzz / Broken Silence)