Art Ensemble of Chicago

Große schwarze Musik     

Chicago, die Windy City, enthält uns einige ihrer Geheimnisse bis heute vor. Unbestritten ist, dass in Chicago lange vor dem großen Exodus aus New Orleans eine florierende urbane Jazz-Szene existierte. Der schwarze Klarinettist Wilbur Sweatman hatte schon fünf Jahre vor der Original Dixieland Jass Band Platten aufgenommen, und er war nicht der Einzige. Doch diese lückenhafte Geschichte wartet noch darauf, komplett erzählt zu werden. Ganz anders verhält es sich mit den Annalen der Association for the Advancement of Creative Musicians, kurz AACM, die ihre Historie von Anfang an lückenlos dokumentierte – in der oralen Tradition der afroamerikanischen Kultur ein Sonderfall.

Von Wolf Kampmann

Die AACM wurde im Mai 1965 gegründet. Erste Anzeichen für eine organisierte Verdichtung genuiner musikalischer Kreativität lassen sich jedoch schon ab 1961 in den Ensembles des Pianisten Muhal Richard Abrams erkennen, eines der vier Gründungsväter der Organisation. Ähnliche Kulminationen gab es in St. Louis mit der Black Artists Group um Julius Hemphill und in Los Angeles mit der von Horace Tapscott angeführten Union of God’s Musicians and Artists, die wegen ihrer Nähe zur Black Panther Party vom FBI überwacht wurde. Doch nur die AACM konnte sich dauerhaft als musikalische und soziale Institution in ihrer Heimatstadt und darüber hinaus behaupten. Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass ihre Statuten so rigoros waren wie die eines deutschen Kleintierzüchtervereins. Es ging um Klangkultur. Nicht zufällig betitelte Roscoe Mitchell sein erstes Album 1966 Sound.

Weitere AACM-Mitglieder der ersten Stunde waren so klangvolle Namen wie Anthony Braxton, Henry Threadgill, Fred Anderson, Maurice McIntyre, Leroy Jenkins, Wadada Leo Smith, Lester Bowie, Joseph Jarman, der leider viel zu früh verstorbene Charles Clark, Fred Hopkins, Jack DeJohnette, Malachi Favors, Fred Hopkins und Thurman Barker, später stießen George Lewis, Amina Claudine Myers, Hamid Drake, Jeff Parker oder Nicole Mitchell hinzu. Die Liste ließe sich endlos erweitern. Hinter jedem Namen verbergen sich Dutzende von Geschichten, die erzählt werden wollen. Beschränken wir uns auf eine davon.

Das Art Ensemble of Chicago wurde am Samstag, dem 3. Dezember 1966, geboren, als Roscoe Mitchell eine spontan einberufene Band im Harper Theater von Chicago Art Ensemble nannte. Die Besetzung des Art Ensembles war zu diesem Zeitpunkt noch flexibel, den Kern bildeten die Saxofonisten Roscoe Mitchell und Joseph Jarman sowie Trompeter Lester Bowie und Bassist Malachi Favors, die aber nicht an allen Sessions jener ersten Jahre beteiligt waren. Hinzu kamen die Drummer Philipp Wilson, Thurman Barker und Robert Crowder sowie der klassische Bassist Charles Clark, der die Verbindung der AACM zum Chicago Symphony Orchestra hielt. Schon 1967 erfolgten erste Veröffentlichungen des AEC durch die unabhängige Plattenfirma Nessa.

1969 gingen Mitchell, Jarman, Bowie und Favors nach Frankreich. Dort begleiteten sie unter anderem die bekannte Chanteuse Brigitte Fontaine (so zu hören auf ihrem Album Comme à la radio von 1970), was erheblich zum Bekanntheitsgrad der Chicagoer beitrug. In Frankreich wurde der Band bei einer Konzertansage der Zusatz „of Chicago“ verpasst, den sie kurzerhand beibehielt. Dort lernten sie auch den Schlagwerker Don Moye kennen, der das amtliche Line-up der Band für die folgenden Jahrzehnte komplettieren sollte.

Gute Instrumentalisten gab es freilich in vielen Bands. Was das Art Ensemble of Chicago auszeichnete, war nicht einmal der Umstand, dass sie ihre Musik nicht mehr Jazz, sondern Great Black Music nannten. Das entsprach einfach dem Zeitgeist. Nein, ihr Markenzeichen war die Kombination höchst unterschiedlicher Persönlichkeiten, die sich zu einem stabilen Fünfeck ergänzten: der Intellektuelle Roscoe Mitchell, der stets Brücken zur zeitgenössischen Klassik schlug, der Zauberer Lester Bowie, dessen an Louis Armstrong geschulter Ton den Spirit des Universums beschwor, der verspielte Schamane Joseph Jarman, der immer das Kleine im Großen suchte und fand, der unerschütterliche Malachi Favors, dessen archaischer Groove unmittelbar dem Erdkern abgehört schien, und Exzentriker Don Moye mit dem unfehlbaren Sinn für den theatralischen Auftritt. Dieses Mischungsverhältnis setzte unzählige Spannungspunkte, egal, ob die Band Free Jazz, Blues, Reggae, Swing, Folk, Pop oder alles auf einmal spielte.

Vom ursprünglichen Art Ensemble sind nur noch Mitchell und Moye dabei; in völlig neuer Konstellation wird 2019 ein neues Album der Band auf Pi Recordings erscheinen. Zu den Labels, die sich um die Geschicke des Art Ensembles of Chicago verdient gemacht haben, gehört neben Nessa, Black Saint, BYG und Pi auch seit Jahrzehnten das Münchner Label ECM. In der sensationellen 21-CD-Box The Art Ensemble of Chicago and Associated Ensembles wird ein Großteil dieser Veröffentlichungen von Art Ensemble, Lester Bowie, Roscoe Mitchell, Wadada Leo Smith und Jack DeJohnette zusammengefasst. Die mit einer umfangreichen Dokumentation ausgestattete Box ist weit mehr als eine Bestandsaufnahme. Sie bietet das über Jahrzehnte reichende Psychogramm einer kulturellen Bewegung, die so viel verändert hat wie nur wenige Strömungen im Jazz. Wer „Charlie M.“ vom AEC-Album Full Force hört, weiß auf immer, worum es im Jazz geht. 

Aktuelle CD-Box: 

Various Artists: The Art Ensemble of Chicago and Associated Ensembles (ECM / Universal)