Brad Mehldau und das Orpheus Chamber Orchestra

Brahms gets the Blues

© Michael Wilson

Ich stellte es mir so vor: Brahms wachte eines Morgens auf und hatte den Blues“ – so ein lässiges Motto gab Brad Mehldau seinem aufwendigen neuen Projekt. Im Grunde ist seine Idee nicht ganz neu, denn sie fußt darauf, dass es – wie schon bei George Gershwin – funktionieren kann, einem Kammerorchester Blue Notes auf den Leib zu komponieren und dennoch klassische Formen zu wahren.

Von Jan Kobrzinowski

Tatsächlich verbreitet schon das kleine Motiv zu Beginn eine eigentümliche Melancholie. Es erinnert ein wenig an das „kultivierte“ Gewand, das der Ragtime dem Jazz in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts hinterlassen hatte, und auf klassischer Seite vielleicht ein bisschen an Gershwin. „Ich arbeite von einer motivischen Zelle aus, die man gleich in den ersten Noten des Themas findet: D-Eb-E-F-G“, schreibt Brad Mehldau in den Liner Notes seiner Variations on a Melancholy Theme. Immer wieder tauchen Blue-Note-haltige Akkorde und Phrasen auf, besonders in den Klavierintermezzi. Der Komponist liebt nicht nur musikalisch strenge Formen, sondern auch strukturell: „Mein Melancholy-Thema hat eine zweiteilige Form, und jeder Teil wiederholt sich: A1 A2 B1 B2. Eine übliche Form für Variationen – z.B. bei Bachs Goldberg oder Beethovens Diabelli.“

Nach Vorstellung des Themas tritt mit Variation 1 ein wogendes Orchester im Walzertakt ein, mit leicht klagenden Holzbläsern und Streichern. In Variation 2 werden die Streicher enervierender, dramatisiert durch Blech und Flöten, und bald darauf rhythmisieren Perkussionisten auf Holzblöcken und Snare-Drums das Ganze. Das Aufkommen von Swing wird im gesamten Verlauf des Werks sorgfältig vermieden, glücklicherweise, denn selten in der Musikgeschichte haben „swingende“ klassische Orchester wirklich etwas zu einer sinn- und lustvollen Fusion von Jazz und Klassik beigetragen.

All das passiert schon in den ersten beiden von Mehldaus Variations, also in den ersten gut sechs Minuten des insgesamt nur halbstündigen Werks. Variation 3 und 4 mäandern dann in einem schnellen Fünfachteltakt, bevor sich Mehldau in Variation 5 vom ursprünglichen Motiv entfernt und „mehr eckigen melodischen Formen“ zuwendet. Es folgen eine kurze rasante Passage für Piano-Solo (Variation 6) und ein zwölftöniger Teil nur für Orchester (Variation 7). Variation 8 bringt einen „düsteren, stattlichen Austausch zwischen Orchester und Klavier“, so der Komponist. „Die Harmonie ist hier an ihrem dichtesten Punkt angelangt, fast wie ‚gesättigt‘.“ Einige Teile, wie die Variationen 9 und 10, scheinen „als beiläufigere Gegenerwiderung auf die beiden vorherigen“ tatsächlich miteinander zu kommunizieren. Und mit „Cadenza“ und „Postlude“ schließt das Stück dann mit einer Klavierkadenz und einer ausgedehnten Coda ab, die in Teilen zum Eingangsmotiv zurückkehrt, sich aber „frei durch wechselnde tonale Zentren bewegt und in einer meditativen Stimmung, im Walzertakt, wie es begann“, endet.

Ob im „klassischen Sinne“ geglückt oder nicht – das Gesamtwerk seiner Variations ist das schöne, knappe und vielseitige Statement eines Jazzkünstlers, der nie seine Affinität zur klassischen Musik versteckt hat; der, wo er kann, für schöne Melodien schwärmt, die er als Pianist mit seinem Trio immer wieder auch in der Popmusik findet. Hier kann Brad Mehldau, wie schon 2018 mit einem Auftragswerk, dem eigens für JAZZTOPAD mit der NFM Wrocław Philharmonie uraufgeführten Piano Concerto, erneut beweisen, dass er ein respektabler Komponist für große klassische Besetzungen ist.

Das Orpheus Chamber Orchestra ist ein „demokratisches Orchester“ aus 38 gleichberechtigten Musikern, das sein Repertoire ohne Dirigenten selbst bestimmt. Es folgt Brad Mehldau detailgenau und präzise, zur Musik hingewandt – das war zu erwarten, denn es hatte den Komponisten eigens beauftragt, ein orchestrales Werk aus seinen Piano-Variationen zu erarbeiten, die Mehldau ursprünglich für seinen klassischen Kollegen Kirill Gerstein geschrieben hatte.

„Das Grundthema der Variations on a Melancholy Theme selbst ist von wehmütigem Charakter geprägt, vielleicht sogar vom Gefühl der Resignation. Es hat etwas von Endgültigkeit und Abschluss, sogar bereits beim ersten Hören. Während ich komponierte, tauchte eine Frage zur Änderung der Narrative auf, nämlich: Wie steigt man in eine Geschichte ein, die mit einem Fazit beginnt? Obschon das Grundthema Melancholie evoziert, ließ ich zu, dass es als Ausgangspunkt für andere Emotionen und Eigenschaften wie ungestüme Freude, Unbekümmertheit und sogar regelrechte Wut dienen konnte, während das Formulieren seiner Variationen voranschritt.“

Das erwähnte Fazit könnte sein, dass es in all der coronabedingten Einsamkeit doch die Aussicht auf ihr Ende gibt. So brandet am Schluss des Albums, nach der Live-Zugabe „Encore: Variations ‚X‘ & ‚Y‘“, unvermittelt Applaus auf, fast wie aus dem Nichts, und das kann man auch als Silberstreif am Horizont interpretieren. Auch ein zur Melancholie neigender Mensch wie Brad Mehldau erhält sich also die Hoffnung auf ein Ende der Hegemonie der musikalischen Konserve.

Aktuelles Album:

Brad Mehldau / Orpheus Chamber Orchestra: Variations on a Melancholy Theme (Nonesuch / Warner)