Dino Saluzzi

Musik kann nicht lügen

Die Musik auf Dino Saluzzis neuem Album Albores scheint beim ersten Hinhören eine gewisse Einsamkeit auszustrahlen. Man könnte meinen, das läge am Bandoneon, einem Instrument, dem diese bestimmte Stimmungslage anhaftet wie keinem anderen. Wer allerdings behauptet, in ihm stecke nur Melancholie und Drama, der muss dem Maestro nur richtig zuhören.

Von Jan Kobrzinowski

In dieser Musik geht es fast immer um das Rubato“, sagt Dino Saluzzi über sein neues Solo-Werk Albores („Dämmerungen“), aufgenommen im Laufe des Jahres 2019. „Das ist keine Musik, die strikt mit dem Tempo umgeht wie im musikalischen Training [solfeo]. Man muss sich das mehr vorstellen wie eine Unterhaltung. Das Bandoneon hat etwas sehr Menschliches, es kommt quasi von der Stimme her. Mit ihm kannst du dich unterhalten.“

Saluzzi zufolge ist genau diese Qualität in der tango-orientierten argentinischen und auch uruguayischen Szene verlorengegangen. Es brauchte einen wie ihn, dessen eigentliche Wurzeln im Norden Argentiniens liegen, wo man Bandoneons ganz anders einsetzt als in Buenos Aires, um das Instrument zu emanzipieren vom Tanz und seinen sonstigen Festlegungen, ja, um es zu befreien von den Begrenzungen des typischen Tango-Orchesters. Alles, was zu dieser Befreiung beitragen konnte, war ihm recht: klassische Konzert- und Kammermusik, Jazz aller Richtungen, vom Einsatz in der Bigband von George Gruntz bis hin zu zahllosen intimen improvisierten Dialogen und vielen anderen kleinen Besetzungen. Und dann ist da die Folklore der Anden und Nordargentiniens, die Musik seines Vaters. Ihm widmet der Sohn dann auch das vorletzte Stück auf Albores, „Don Caye – Variaciones sobre obra de Cayetano Saluzzi.“

„Es ist etwas verlorengegangen in dem, was wir La Orquesta Típica nennen. Dieses besteht meist aus vier Bandoneons, vier Violinen, Viola, Cello, Piano und Kontrabass. In diesem Kontext hat das Instrument seine Fähigkeit zur Konversation verloren. Diese seine ‚menschlichen Möglichkeiten‘ wiederzubeleben, habe ich mich in den Stücken bemüht. Ich sprach darüber mit Manfred [Eicher], und er war einverstanden.“

Fast das ganze Album erzählt diese typischen Rubato-Geschichten. Besonders die ersten beiden Stücke, „Adiós Maestro Kancheli“ und „Ausencias”, wirken wie zwei in sich gekehrte Meditationen, in denen Dino Saluzzi mit seinem Instrument ins Zwiegespräch eintritt. „Es lädt dich ein zur höchsten Konzentration auf dich selbst. Die Polyphonie, die im Bandoneon steckt, enthält ein wunderbares Geheimnis. Man kann fast sagen, jemand könnte auf ihm für ein ganzes Orchester komponieren. Obendrein ist das Instrument eines, das mit dir spricht, fast als wäre es eine Person.“

„Adiós Maestro Kancheli“ ist dem georgischen Komponisten Gija Alexandrowitsch Kantscheli gewidmet, der im Oktober 2019 starb. „Ich hatte die Ehre, den Maestro persönlich kennenzulernen. Bei einem Konzert mit dem Rosamunde Quartett, ich glaube in Deutschland. Ich verehre ihn besonders für die Schönheit seiner Kompositionen, für die Einfachheit seiner Gedankengänge. Genau wie z.B. Schubert gehörte er nicht zu denen, die Musik als Wettbewerb sehen, sie sind einfach sehr profunde Musiker. Zwei oder drei Noten können oft genug sein, um diese Liebe auszudrücken, die der Musik innewohnt.“

Mit dem dritten Stück, der Milonga „Según me cuenta la vida“, gelangt Dino Saluzzi dann wieder in die Gefilde des Tango. Wie nachfolgend auch „Íntimo“ zaubert das Stück charakteristische Bilder aus Buenos Aires‘ Arbeitervierteln des sogenannten „goldenen Zeitalters“ Anfang des 20. Jahrhunderts hervor. Überhaupt ist Saluzzi ein „notorischer Rückkehrer“. Immer wieder zieht es ihn, zumindest innerlich, von seinen Ausflügen in die ganze Welt zurück in den Norden Argentiniens, in seinen Geburtsort Campo Santo und nach Salta im gebirgigen Nordwesten des Landes, zurück auch ins Musizieren mit seinem Clan, der Saluzzi Family Band. Vielleicht bot sich nun gerade in dieser Zeit des zwangsläufigen Rückzugs eine passende Gelegenheit, ein Soloalbum wie Albores zu veröffentlichen. Mit welcher Bandbreite emotionalen Ausdrucks, mit welcher Hingabe und welchem Humor dieser Musiker ausgestattet ist, spürt man nicht nur in den letzten Noten, mit denen die Milonga verklingt.

Mit Dino Saluzzi führt man kein Interview nach dem Frage-Antwort-Schema. Der inzwischen 85-Jährige erzählt, spürt nach, geht in den Pausen seinen Gedanken nach, bleibt dabei immer dem Gespräch zugewandt, voller Liebe zur Musik, zur Kunst, zu den Menschen, beseelt von der Zuversicht, dass die Kunst diese Welt wenn schon nicht rettet, so doch zumindest dafür sorgt, dass mit ihr die Humanität eine Überlebenschance hat. „Der Mensch wächst durch den Geist, nicht durch die Banken und die Industrie“, sagt er augenzwinkernd. Und dann: „Mit der Musik kannst du nicht lügen – und Musik an sich lügt nicht. Die Musiker sind diejenigen, die die Instrumente der Kommunikation in den Händen halten. Bücher und Worte erreichen das Leben nur bedingt, sie halten lediglich Formeln für das Leben bereit. Das Leben selbst indes braucht keine Formeln. Es steht für eine ewige Kreativität.“ Nach längerer Pause fügt er hinzu: „Vielleicht kann man mit der Musik eine humanere, ausgeglichenere Welt-Gesellschaft mit mehr Harmonie herbeiführen. Dabei ist es nicht so, dass wir immer alle einer Meinung sein müssen.“

Albores von Dino Saluzzi ist eine Hommage an die Vielfalt, die Kraft der Musik in schweren Zeiten – und ein Hinweis auf die Schutzbedürftigkeit der Humanität. Seine Musik spricht dabei für sich, und aus seinem Munde wirken selbst vielleicht manchmal pathetisch klingende Worte irgendwie beruhigend, einfach und … wahr.

Aktuelles Album:

Dino Saluzzi: Albores (ECM / Universal)