Festival

Moers

© André Symann

Von Holger Pauler. Dass in Moers nicht nur auf der Bühne improvisiert wird, ist bekannt. In diesem Jahr war besonderer Mut gefragt. Denn während bis in den Spätsommer hinein europaweit fast alle Konzerte und Festivals wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurden, ging man am Niederrhein einen anderen Weg: New Ways to Fly lautete das Motto. Am Ende standen rund 40 Konzerte in vier Tagen auf dem Programm und mehr als 200 Musiker*innen auf den beiden Bühnen der Festivalhalle, live gestreamt vom TV-Sender Arte.

Niels Klein Trio & EOS Kammerorchester, cond. Susanne Blumenthal © Nils Brinkmeier

Es war ein Festival unter Laborbedingungen – im doppelten Sinne: Es wurde viel ausprobiert, vor und auf der Bühne. Kameras, Techniker und Musiker waren permanent in Bewegung, und Masken waren Pflicht – außer auf der Bühne. Doch etwas Entscheidendes fehlte: das Publikum. Bei den Musiker*innen überwog dennoch die Freude, wieder auftreten zu dürfen – und das vor einem großen, wenn auch virtuellen Publikum, das es sich zu Hause im Garten oder auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und fleißig Bilder und Videos schickte. „Ich habe endlich das Gefühl, das Leben geht wieder los“, brachte es die Saxofonistin Silke Eberhard auf den Punkt.

Bambi © Nils Brinkmeier

Mehrere Dutzend Künstler hatten dennoch abgesagt, weil sie nicht einreisen durften – darunter Archie Shepp und John Scofield. Auch John Zorn fehlte, weil er es kategorisch ablehnt, Konzerte zu streamen. Festivalleiter Tim Isfort konnte kurzfristig Musiker aus den Hotspots Berlin und Köln engagieren, die mehr waren als nur Ersatz: Jonas Burgwinkel (dr), Robert Landfermann (b) und Loren Stillman (sax) spielten mal swingenden, dann wieder völlig losgelösten Post-Bop. Im Trio Grünen mit Achim Kaufmann (p) und Christian Lillinger (dr) zeigte sich Landfermann später von der wilderen Seite: frei, rhythmisch, dicht und doch mikrotonal – Improvisation auf höchstem Niveau.

TAU 5 mit Philipp Gropper (sax), Philip Zoubek (synth), Petter Eldh (e-b, keyb, electr), Moritz Baumgärtner (dr) und Ludwig Wandinger (electr, live processing) transformierte zeitgenössischen Jazz auf eine neue Ebene. Neben den technischen Fähigkeiten der Musiker ist das dialogische Spiel hervorzuheben. Electronics werden selten so flexibel eingesetzt wie hier: nicht nur als zusätzliche Klangfarbe, sondern als prägende Solostimme. Die Großformation The Dorf widmete sich Beethovens Fünfter und ließ, abgesehen vom markanten Einstieg, kein Notenblatt auf dem anderen. Passend dazu wurde eine Beethoven-Büste nass rasiert.

Auch gesellschaftspolitische Debatten gehören zu Moers. Unter dem Motto 51 Prozent brachte Isfort in Kooperation mit dem Essener Peng-Festival an allen vier Tagen reine Frauenbands auf die Bühne. Dass im Jazz der Frauenanteil nur unwesentlich höher ist als in den Führungsetagen von Dax-Konzernen, bleibt ein Ärgernis. In der begleitenden Diskussionsrunde wurde darüber diskutiert, ob eine Frauenquote helfen könne: „Was haben wir zu verlieren?“, fragte Alexandra Lehmler (Deutsche Jazzunion). Weniger jedenfalls als die Festivals, die auf ihre Stimmen verzichten.

Mit Les Diaboliques (Maggie Nichols, Joëlle Léandre, Irène Schweizer) musste leider eine Combo absagen, deren Protagonistinnen zu den ersten gehörten, die die Männerdomäne Jazz durchbrachen. Schweizer und Léandre hatten bereits 1987 mit Canaille als erste reine Frauenband in Moers auf der Bühne gestanden. In diesem Jahr boten 51% feat. Silke Eberhard & Guests einen kraftvollen freien Auftritt, der mehr war als nur ein überzeugendes Statement.

Allgegenwärtig war auch der Slogan „Black Lives Matter“. Wegen Covid-19 durften keine Musiker aus Nordamerika einreisen. In deren Namen reagierten die anwesenden Künstler mit Samples, Plakaten und Statements auf die schockierenden Bilder aus den USA. Die Aufführung von Julius Eastmans Evil Nigger bekam so tagesaktuelle Relevanz. Patricia Martin, Kai Schumacher, Benedikt ter Braak und Mirela Zhulali traten mit schwarzen Hoodies und Mundschutz in Regenbogenfarben auf, auf dem Rücken der Hashtag „I can’t breathe“. Die minimalistische Komposition wirkte dadurch noch eindrucksvoller und verstörender.

Das Festival lebt von Brüchen und Antithesen: Das Berliner Noisepunk-Trio Gewalt rockte brachial die Halle, The Notwist spielte wundervollen Post-Krautrock. Daneben war es „Miss Unimoers“, dargestellt durch den Schauspieler Matthias Heße, vorbehalten, die Szenerie aufzulockern. Die ideelle Gesamt-Moerserin tauchte mal tanzend, mal mit einer Dose auf der Couch liegend auf, mitunter allerdings derart nervend, dass selbst das überdimensionierte Rehkitz auf der Tribüne nur noch die Augen schließen konnte. Am Ende spielte Saxofonist Wolfgang Puschnig unter dem Motto „aerosolo“ den einsamen Festivalblues.

Das Experiment ist gelungen, und Tim Isfort hofft, dass auch andere Festivals das Positive mitnehmen und verstärkt auf digitale Formate setzen. Aber auch er weiß: Digital ist nicht besser, denn Live-Musik aus dem viereckigen Kasten und ohne Publikum ist eben nur die zweitbeste Lösung.

Pianomobil © Jo Hempel

Bambi © Nils Brinkmeier

 

 

Achim Zepezauer im Entezami @ André Symann

Achim Zepezauer im Entezami @ André Symann

Konzerte gibt es auf: www.arte.tv/de/