Hiromi

Sleep, Eat, Play!

©Mitsuru-Nishimura

Höchste Virtuosität, phänomenale Technik – das wird Hiromi stets als Erstes attestiert. Die Japanerin gilt als Hochleistungspianistin par excellence, auch aufgrund ihrer explosiven Auftritte. „Wenn ich meine Technik einsetze, hat das einen guten Grund“, sagt sie gelassen, „weil ich etwas mit dieser Phrase sagen will – nicht weil ich schnell spielen will“.

Von Arne Schumacher

Hiromi Uehara sitzt in ihrer Wohnung in Tokio. Ein paar Tage zuvor hat sie Konzerte in den USA gegeben, ihrer zweiten Heimat – auch in Brooklyn, New York, hat sie eine Wohnung. Anschließend fliegt sie zu Auftritten nach Europa, dann zurück zu einer großen Japan-Tour. Anlass ist ihr zwölftes Studioalbum. Für SonicWonderland hat sie die neue Gruppe Hiromi’s Sonicwonder formiert, ein amerikanisches East/West-Quartett mit dem französischen E-Bass-As Hadrien Feraud und Drummer Gene Coye, beide aus L.A., sowie Trompeter Adam O’Farrill aus New York City. „Ich hoffe, die Menschen können die Botschaft in meinem Spiel hören“, sagt sie. „Ich weiß, dass es viele gibt, die mich verstehen, die genauso fühlen. Das macht mich glücklich.“

Vor gut zwanzig Jahren hatte die Jazzwelt ihr erstes Album zu hören bekommen. Der jüngst verstorbene Ahmad Jamal war ihr Mentor. „Ich erinnere mich genau, wie ich 2002 in Italien beim Umbria Jazz Festival mein Profi-Debüt im Vorprogramm von Ahmad bestritt. Ich war so begeistert und energiegeladen! Dieses Gefühl begleitet mich auch heute noch bei jedem einzelnen Auftritt. Ich fühle mich zu Hause auf der Bühne, da gehöre ich hin. Deshalb gebe ich dort jedes Mal alles. Wir wissen ja nicht, was morgen ist.“ Sie strahlt. Das ist keine souverän abgespulte Plattitüde – genau so empfindet sie.

Hiromi wirkt mit 44 noch immer wie eine Frau in ihren Zwanzigern. Hat die Pianistin und Komponistin jemals gezielt etwas an ihrem Spiel oder ihrer Haltung verändert? Sie überlegt. „Nicht für das Publikum. Nur wenn ich für mich das Gefühl hatte, dass ich etwas ändern will. Bei manchen Veränderungen ist es wie im Leben: Man wird älter, wächst und entwickelt sich. Vor 20 Jahren waren zum Beispiel die Farben auf meiner Palette wesentlich begrenzter. Heute verfüge ich über ungleich mehr. Wenn ich jetzt ,Blau‘ ausdrücken will, gibt es in meinem Spiel nicht nur dunkel- oder hellblau, sondern Indigo oder Ozeanblau oder andere Blautöne. Auch meine dynamische Spanne ist wesentlich weiter.“

Sound, Klangfarben – das sind Schlüsselbegriffe in Hiromis musikalischer Wahrnehmung. Auch wenn sie über ihre Bandkollegen spricht, geht es zunächst darum. „Ich habe einen bestimmten Sound im Kopf. Klangfarbe, der Ton, das ist alles für mich! Das war schon bei meinem Trio mit Anthony Jackson und Simon Phillips so. Der Ton ist wie eine Fackel – er führt mich zu den passenden Musikern.“ Hadrien Feraud wollte sie ins Boot holen, seit sie 2016 erstmals mit ihm zusammengespielt hatte. Gene Coye war sie in der Band von Stanley Clarke begegnet. Beim Komponieren kam Hiromi eine Trompete in den Sinn. „Wenn ich eine Melodie höre, geht das mit einem Sound einher. Die Trompete sollte dunkler klingen. Und ich wollte jemanden, der Effektpedale einsetzen kann.“ So rückte Adam O’Farrill ins Bild, Spross der prominenten New Yorker Latin-Jazz-Familie.

Sonicwonder knüpft an das Projekt Sonicbloom an. „Das Wort Sonic signalisiert, dass ich auch meine elektrische Seite einbeziehe“, und zwar in Form zweier Synthesizer. Beim forschenden Knöpfedrehen („Das ist für mich wie ein Spielplatz!“) findet sie Sounds, die sie zu ganzen Stücken oder bestimmten Passagen inspirieren. Nebenbei bedient es eine ewige Neigung: „Ich bin ein riesiger Gitarren-Fan! Mit all den Soundmöglichkeiten der Keyboards fühle ich mich ein bisschen, als ob ich Gitarre spiele.“

Die akustischen und elektrischen Anteile auf Sonicwonderland sind gut ausbalanciert. Vereinzelt stechen bizarre Synth-Sounds hervor, hier und da gibt es eine synthetische Grundierung – manchmal steht aber einfach nur der Flügel im Zentrum. In einigen der ausgedehnten Stücke entfaltet sich ein intensives dynamisches Interplay. Neigte Hiromi früher dazu, Parts präzise vorzugeben und Abläufe stärker zu kontrollieren, hat sie sich dieses Mal zurückgenommen: „Ich wollte viel freie Fläche für Improvisation lassen. Da ist vieles offen. Die drei lassen die Kompositionen auf unterschiedliche Weise erblühen.“

Jazzfunk, Fusion-Formeln, Latin, ein sentimentales Song-Epos mit Gastvokalist Oli Rockberger, Themen mit japanisch anmutender Melodieführung, am Ende eine schräge Rag-Mutation – all das sind Zutaten dieses „neuen Abenteuers“, wie Filmfan Hiromi es formuliert. „Hinter jedem Stück steckt eine Geschichte. Ich sehe sie wie Szenen eines großen Films“. Das bunt verspielte Cover gestaltete Wunschkandidat Lou Beach. Sie schwärmt: „Er kann Musik malen – ich höre meine Musik aus seiner Kunst!“

Noch einmal zu der enormen Energie, die Hiromi in ihrem Schaffen bündelt. Wo nimmt sie die her – wie lädt sie den Akku auf, physisch und mental? Sie lächelt: „Die beiden allerwichtigsten Quellen sind für mich Schlafen und Essen. Klingt simpel, aber das ist der Kern des Lebens. Schlaf ist so wichtig! Ich versuche, so viel wie möglich zu kriegen. Und ich esse gerne: Lokales, Gehaltvolles, Gesundes. Ich rede auch gerne übers Essen. Musik und Essen sind eng verbunden, finde ich. Jeder hat einen anderen Geschmack. Je nachdem, wie es uns geht, wollen wir was anderes essen. So wie wir je nach Stimmung andere Musik hören wollen. Ich nehme Essen sehr ernst.“ Sie lacht: „Ich freue mich jeden Tag darauf, was ich als Nächstes esse!“

Aktuelles Album:

Hiromi: SonicWonderland (Concord Records / Universal)