© Seung Yull Nah

Youn Sun Nah

Mit viel Gefühl

Youn Sun Nah zelebriert auf ihrem neuen Album Elles Hommagen an einige ihrer Lieblingsinterpretinnen, die sie selbst etwas lapidar „eine Sammlung von Coversongs“ nennt. Entstanden aber sind individuelle Meisterwerke der Re-Interpretation im Dialog mit nur einem kongenialen Partner, dem Pianisten Jon Cowherd.

Von Jan Kobrzinowski

Sich für Elles nicht von einer Band, sondern nur von einem Keyboarder begleiten zu lassen, war eine ganz bewusste Entscheidung. „Als ich begann, Jazz zu studieren, arbeitete ich immer mit einem Quartett oder Quintett. Als ich dann mit Ulf Wakenius im Duo spielte, hatte ich etwas gefunden, das mir viel mehr Freiheit gab. Manche Leute sagen, sie fühlen sich nackt mit nur einem Musiker auf der Bühne. Ich liebe das kleine Format. Wenn ich an einem Album arbeite, beginnt alles für mich eigentlich immer in kleiner Besetzung.“

Mit Jon Cowherd hat Youn ein sehr subtiles Konzept ausgearbeitet, das sie auf ihrer Live-Tour 2023/24 mit verschiedenen Pianisten (Benjamin Moussay, Tony Paeleman, Bojan Z) umsetzen wird. „Mit Jon hatten wir tatsächlich nur einen Tag Zeit zum Proben. Es fühlte sich eher wie eine Art Jam an. Er ist wie eine lebendige Music-Box. Du fragst, ob er hier so was wie einen New-Orleans-Vibe kreieren kann? Na klar! Oder dort ein bisschen präpariertes Klavier? Bitte schön, kein Problem.“

Nach Youn Sun Nahs Version von „Feeling Good”, dem Opener des neuen Albums, fühlt man sich definitiv besser als nach Nina Simones schmerzhaft-schönem Original. Björks obskures „Cocoon” erhält durch ihre Behandlung eine musikalische Struktur, die das Original so nicht enthält. Astor Piazzollas „Libertango” bzw. Grace Jones’ legendäre Gesangsversion „I’ve Seen That Face Before“ erfährt mithilfe von Jon Cowherds origineller Tasten-Behandlung eine sehr persönliche Färbung. Auf Grace Slicks „White Rabbit” fällt ein neues klares Licht, auch wenn Youn ursprünglich George Bensons Version von dessen berühmtem gleichnamigen CTI-Album von 1972 im Ohr hatte. „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ wird unter den Händen des Duos zum minimalistischen Wunderwerk und irgendwie auch zum Signature-Stück des Albums. Es klingt, als wäre jede Silbe, jede Note, jedes Bending, jede Phrasierung total ausgearbeitet, am Ende sogar mit einer geheimnisvollen (fernöstlichen?) Färbung. „Ich hörte das Stück zum ersten Mal als Kind, mit etwa sieben Jahren. Mein Vater war Chorleiter und arrangierte es für den Chor. Der Song war von da an immer mit mir. Ich glaube, deswegen singe ich ihn jetzt von diesem ,soft spot‘ aus.“

Ihre Interpretation von Hoagy Carmichaels Vogel-Parabel „Baltimore Oriole” schickt Youn Sun Nah über einen Umweg von Randy Newman back home nach New Orleans und zurück zum Ragtime. Maria Joãos „Coisas Da Terra” nutzt sie, um in Vokalisen ihre ganze Virtuosität zu zeigen. „La Foule” ist pure Verbeugung vor Edith Piaf und der Musik einer von Youns Wahlheimaten. Über „My Funny Valentine” und „Killing Me Softly” muss man nicht viele Worte verlieren, sie fungieren als Klassiker-Zugaben auf diesem Nicht-Standardalbum.

Die Auswahl der Songs auf Elles spiegelt viele ihrer Einflüsse wider. Es gibt Jazz, auch Scat, sehr persönliche Songwriter-Musik, tiefe und bluesige Balladen mit viel Gefühl, Chanson, 60er/70er-Jahre-Pop – was ist ihr sonst noch wichtig? Aus ihrer Biografie weiß man, dass es noch mehr gibt, z.B. Musical und klassische Musik. „Ich glaube, wenn ich allen meinen Einflüssen nachgehen würde, entstünden gleich zehn oder zwanzig Alben. Diesmal waren eben Sängerinnen, die mich inspiriert haben, meine erste Wahl. Ich liebe diese Songs, sie sind tief und soulful, besonders Balladen, je trauriger, desto besser.“ Und Björk ist ihr Idol. Ihre Stimme kann, genau wie Youn selbst, völlig verrückt klingen und dann wieder wie ein schüchternes kleines Mädchen. „Maria João ebenso, aber ihr Scatgesang ist umwerfend. Nina Simone ist anders, sie kann Liebe und Hass auf dem gleichen Niveau ausdrücken. Du siehst, ich dachte bei allem nicht viel an meine Technik – ich suchte mir Stücke aus, die mir als Zuhörerin einfach gefallen, und am Ende will ich einfach zu meinen Gefühlen stehen. All diese Sängerinnen zeigten mir, dass es keine Beschränkungen gibt.“

Youn Sun Nah hörte als Teenager Pop und Folksongs, bevor sie mit 26 Jahren mit dem Jazzstudium begann. Zur gleichen Zeit, in Paris, interessierten sie auch französische Chansons. Sie stellte eine Band mit einem französischen Sänger zusammen. „Aber je mehr ich verstand, was ich da sang, desto mehr dachte ich: du kannst nicht diese Texte singen, wenn du nicht französisch bist. Jazzstandards auf Englisch sind universeller, als wenn etwa Jacques Brel von bourgeoisen Familien singt.“

Auf zwei Songs begleitet sich Youn Sun Nah selbst auf simplen Instrumenten wie einer Spieluhr und einer Kalimba, dem afrikanischen Daumenklavier. „Ich hatte das eigentlich nie vor. Aber ich besorgte mir eine Kalimba, nachdem ich bei einem Konzert in Paris mit Omar Sosa war, zu dem er afrikanische Musiker eingeladen hatte. Und ich probierte es. Es ist möglich, ein Stück, das eigentlich viele Akkorde hat, mit nur ein paar Tönen zu begleiten. Ich übte und sagte mir: Warum nicht?“ Auch die harmonisch begrenzten Möglichkeiten einer Spieluhr, erstanden in einem Pariser Laden, setzt sie clever für ein Stück mit eigentlich komplexerer harmonischer Struktur ein (Killing Me Softly with His Song”) und lässt für das Fade-out dieses wunderbaren Albums ihre Stimme darüber variieren.

Aktuelles Album:

Youn Sun Nah: Elles (Warner)