HÖRBUCHT
STILLER WOHNEN
Niendorf ist nicht Neindorf (Stadtteil von Wolfsburg) und schon gar nicht Keindorf (Ortsteil von Etingen), denn dörflich kommt es daher. Zwischen den locker mondäneren Travemünde und Timmendorfer Strand gelegen, erstreckt sich Niendorf als Badeort an der Ostsee mit Stegen, Hafen, Meerwasser-Schwimmbad und dem griechischen Imbiss Spezialitäten-Restaurant Akropolis über relativ wenige Meter und Häuser mit relativ wenigen Einwohnern. Mehr Touristen, Hotels und Apartments. In Niendorf als Ortsteil von Timmendorfer Strand wohnen knapp 2400, im Stadtteil Hamburg-Niendorf tummeln sich 40.000 Einwohner. Wohin mit so viel unnützem Wissen?
In die Hörbucht…
Björn Simon
Heinz Strunk
Ein Sommer in Niendorf
Roof / tacheles!
5 Sterne
Heinz Strunk
Der gelbe Elefant
Roof / tacheles!
4 Sterne
„Man darf Heinz Strunk mit gutem Recht ein Genie nennen“, jubelt die BERLINER MORGENPOST, und ich bin geneigt, mich diesem besoffen-euphorischen Urteil anzuschließen. Zumindest gilt das für Fleisch ist mein Gemüse, Der goldene Handschuh und Nach Notat zu Bett und auch für sein Hörbuch (natürlich auch als Roman erschienen) Ein Sommer in Niendorf. Und es gilt für Strunks locker-lakonischen norddeutschen Tonfall, der das Zuhören grundsätzlich zum Genuss macht und auch die mit leichten Schwächen aufwartende neuere Kurzgeschichtensammlung Der gelbe Elefant grandios aufwertet. Man hört das gerne, man lässt das gerne laufen, besser als die meisten Podcasts ist Strunk eh.
Die grandiose Idee, in die Sendung von Markus Lanz eingeladen zu sein, aber nicht zu Wort zu kommen, führt Strunk mit beißendem Spott, aber (wie immer) einer grundehrlichen Sympathie für die Verlierer – der Gesellschaft oder, wie hier, nur des Tages – zusammen. Dass Lanz seine Gäste sowieso nicht gerne zu Wort kommen lässt, sondern am liebsten selbst redet und die Wiederholung einer Frage für den Höhepunkt des investigativen Journalismus hält, wurde ja schon oft gegeißelt – von Stefan Niggemeier über Max Giermann bis Michael Hanfeld –, aber Strunk schraubt die Nummer noch eine Drehung weiter: Sein Experte wird von Lanz nicht einmal gefragt. Die anderen Geschichten in Der gelbe Elefant sind originell und komisch und werden von Figuren aus dem üblichen Strunk-Kosmos bevölkert: Ein Tourist bei der Thai-Massage am Strand, ein Bauer in der Großstadt.
Zu Höchstform läuft Strunk in Ein Sommer in Niendorf auf. Fast fünf Stunden – und Strunk liest beileibe nicht langsam – dauert das Hörbuch, und man ist sehr schnell drin in der Geschichte. Ein Möchte-gern-Schriftsteller begibt sich in das Ostseebad, um die längst fällige Abrechnung mit seiner Familie zu schreiben. Natürlich kommt er nicht dazu, denn ein Vermietungs-Hiwi und Strandkorbdreher – wohl Strunks Vorliebe für absurde Berufe geschuldet – nimmt ihn in Beschlag, und unser Protagonist, der sich zunächst eher belästigt fühlt, versinkt schließlich in eine alkoholselige Schicksalsgemeinschaft mit dem Mann, begünstigt von dem Umstand, dass dieser auch noch Inhaber eines Schnapsladens ist. Erika Thomalla hat in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vor allem auf die Thomas-Mann-Verbindungen des Buches hingewiesen. Doch der „Schriftsteller“ im Niendorfer Sommer – Thomalla zeigt die Parallelen zu Hans Castorp, dem Protagonisten aus Der Zauberberg – erbt nicht nur die Jobs seines „Mentors“, sondern auch dessen Freundin. Das ist Castorp nicht gelungen.
Rolf Thomas
Sophie Passmann
Pick Me Girls
Roof / tacheles!
3 Sterne
Pendelnd zwischen Journalismus und Unterhaltung hat Sophie Passmann sich außergewöhnlich verdient gemacht: Sie hat für ein Buch mit alten weißen Männern gesprochen und in einer Sendung von Joko & Klaas auf den Skandal der Dick-Pics hingewiesen. Das alles tut sie mit Witz, doch in letzter Zeit scheint ihr der innere Kompass zu fehlen. Schon ihr letztes Buch Komplett Gänsehaut war eine larmoyante Selbstbespiegelung ihrer eigenen Prenzlauer-Berg-Blase, die schon in Reinickendorf oder Weißensee niemanden mehr interessiert. Auch ihr neues (Hör-)Buch Pick Me Girls ist voller Larmoyanz, aber das Thema – Wie bringe ich junge Mädchen weg von unheilvollen Vorbildern? – hat immerhin eine dringliche Relevanz. Passmann stellt sich die Frage, welche Version von ihr es beispielsweise geben würde, „wenn das Patriarchat nicht existieren würde“. Die Belastungen, die der männliche Blick auf weibliche Teenager mit sich bringt, analysiert sie weitgehend zutreffend und natürlich auf ihre eigene scharfsinnige und witzige Art. Gleichzeitig ergeht sie sich aber auch in wehleidigen Betrachtungen über den eigenen Werdegang. Ausgehend von einer Kindheit, in der sie sich oft als zu dick empfunden hat, gipfelt Passmanns „Beweisführung“ leider in der grotesken Feststellung, dass auch das Manipulieren am eigenen Körper bis hin zu Schönheitsoperationen vom Patriarchat so subtil gefordert wird, dass selbst Passmann sich nicht dagegen wehren konnte. Selbst Fans ihrer Prosa und ihrer Auffassungen fassen sich da an den Kopf, denn auch wenn Passmann es sich nicht vorstellen kann: Es gibt auch junge Frauen, und zum Glück ist es in der Bundesrepublik immer noch die Mehrheit, die sich nicht Fett absaugen, die Brüste operieren und Botox injizieren lassen. „Ich gebe Geld aus für das Färben von Augenbrauen und Lacke für die Nägel, dauerhafte Haarentfernungen und Gesichtsbehandlungen zur Minimierung von Rötungen“, schreibt Passmann in der ZEIT und behauptet gleichzeitig, dass man nur so (!) „ein Mindestmaß an Respekt bekommt“. Man muss leider sagen: Lächerlicher geht’s kaum. Pick Me Girls ist dennoch hörenswert, denn die Schilderung von Passmanns Kindheit und den traumatischen Teenagerjahren ist mitfühlend und authentisch.
Rolf Thomas