HÖRBUCHT

BIG APPLE

Klaun, klaun, Äppel wolln wir klaun, ruckzuck übern Zaun… Während Herr von Ribbeck auf Ribbeck einst im Havelland freigiebig dafür sorgte, dass die Jungs und Deerns auch nach seinem Tode noch mit Birnen versorgt waren, machten die Hamburgerinnen und Hamburger ihre Stadt eher unbewusst zum deutschen Big Apple – eine City, die auch nicht viel mehr schläft als New York. Jedenfalls nicht auf St. Pauli. Wobei die Große und die Kleine Freiheit ursprünglich auf den freien Handel von Waren zurückgingen, aber natürlich auch auf Gewerbefreiheit. Eine Handelszone en miniature … ein bisschen wie die EU. Nur ohne Brexit. Aber den kriegen die Briten ja auch nicht hin. Auf der Großen Freiheit wären derlei Abstimmungen – „ORR-DERR!!“ – vermeintlich schneller durchgeboxt. Aber vielleicht sollte man einfach nur einen Apfel klauen und sich damit in den Dachsbau zurückziehen, um genüsslich anderen Zeiten zu lauschen. In der Hörbucht

Björn Simon

Dirk von Lowtzow

Aus dem Dachsbau

Argon Verlag

4 Sterne

Ähnlich wie Schorsch Kamerun von den Goldenen Zitronen, der ja längst als „Regisseur“ firmiert, scheint nun auch Dirk von Lowtzow, Sänger und Gitarrist von Tocotronic, ein warmes Plätzchen in der Hochkultur zu suchen. Deshalb schreibt er Opern, Kunstkritiken und komponiert Soundtracks, denn irgendwann hat man ja vielleicht einfach mal genug vom Rock’n’Roll.

Aus dem Dachsbau ist sein erstes Buch, im Prinzip eine Autobiografie, die sich aber als eine Art Enzyklopädie tarnt, die für jeden Buchstaben des Alphabets ein Stichwort abhandelt – von Abba bis Zeit. Die Erinnerungen an die Kindheit in der Provinz sind anrührend – aber auch nicht erstaunlich für den, der „Electric Guitar“ vom jüngsten Tocotronic-Album Die Unendlichkeit gehört hat –, die Geschichte des Aufstiegs der Band erstaunlich und die Betrachtungen zur Gegenwart (inklusive Kino, Putzen und seltsamer Visionen) ehrlich gesagt entbehrlich. Die sprechenden Tiere sind wohl eine private Idiosynkrasie des Autors, und selbstverständlich kann von Lowtzow das auch versiert intellektualisieren – und tut das zurzeit in diversen Interviews –, nerven tun sie dennoch.

Aber von Lowtzow kann schreiben – logisch, denn er schreibt ja auch die cleveren Tocotronic-Texte –, und deshalb ist Aus dem Dachsbau, auch wenn man sich nicht für Stofftiere interessiert, durchaus erhellend. Anekdotensammlungen wie in Mötley Crües The Dirt sollte man nicht erwarten, aber der Autor lebt seine Lust an manierierten Eigenheiten und überkitschigem Schwulst genüsslich aus und wer einen Sinn für die verschiedenen Ebenen der deutschen Sprache hat und gleichzeitig ein Interesse an der Band Tocotronic, der sollte zugreifen. Gelesen noch schöner, denn von Lowtzow kann nicht nur schreiben, sondern auch lesen.

Rolf Thomas

Rocko Schamoni

Große Freiheit

Random House Audio / Edel:Kultur

3,5 Sterne

Grosse Freiheit von Rocko Schamoni

Eine Frau betritt eine Bar, woraufhin sich ihr ein junger Mann, gekleidet in aufreizender Unterwäsche, nähert, sich an sie schmiegt, eine Hand auf ihre Scham legt und sie fragt: „Spendierst du mir einen Drink?“

Wem die Szene lächerlich vorkommt, der vertausche die Geschlechter und hat exakt die Situation, die sich Nacht für Nacht in unzähligen Etablissements – auf der Kreditkartenabrechnung tauchen sie unter dem Stichwort „Erlebnisgastronomie“ auf, um Ehefrauen und Finanzämter nicht zu beunruhigen – hierzulande abspielt, denn Deutschland ist durch das noch von Rot-Grün installierte und von der Merkel-Regierung reformierte Prostituiertenschutzgesetz „prostitution heaven“, beziehungsweise weniger poetisch ausgedrückt: der Puff Europas (Rocko Schamoni nennt diese Läden ganz präzise und prosaisch „Bar mit Fickmöglichkeit“).

Doch erzählt er aus einer anderen Zeit, als das Rotlichtmilieu in Deutschland noch rauer war. Große Freiheit ist die Geschichte von Wolli Köhler (alias Wolli Indienfahrer, wie er im Roman von Hubert Fichte heißt), der nicht nur ein Bordell auf St. Pauli geleitet, sondern auch den Aufstieg aus kleinen Verhältnissen im Nachkriegsdeutschland inklusive Drogen, Alkohol und Rock’n’Roll – ja, die Beatles kommen auch vor – am eigenen Leib erlebt hat. Die Faszination fürs Milieu begleitet die Literatur von Anbeginn, gerade erst ist Weltpuff Berlin, ein 1000-seitiges Konvolut des längst vergessenen Schriftstellers Rudolf Borchardt, dem Nachlass entrissen worden, aber auch Wolf Wondratschek hat sich gern im Puff interviewen lassen, Fritz J. Raddatz – der mit Fichte befreundet war – musste seinen Boss Heinrich Maria Ledig-Rowohlt immer wieder sturzbesoffen dort herausholen, Nora Bossong (Rotlicht) und Philip Siegel (Porno in Deutschland) haben sich in jüngster Zeit auf Spurensuche ins Milieu begeben.

Schamoni interessiert sich nur am Rande für das Geschäft der Prostitution, er ist mehr an der „Aufstiegsgeschichte“ seines (Anti-)Helden interessiert. Das ist ein bisschen schade, weil es seinem Roman dadurch an analytischer Schärfe mangelt, gleichzeitig ist es aber auch ein Vorteil, denn man versteht besser, wie ein Mann wie Köhler im Milieu landen konnte: Ein archaisches Frauenbild, die revolutionäre Sexwellen-Stimmung der sechziger Jahre und eine diffuse Vorstellung von Freiheit (und die Große Freiheit ist eben auch ganz schlicht ein Hamburger Straßenname) spielen dabei eine Rolle.

Man kann hier nur in Stichworten anreißen, wie vielfältig dieser Roman ist: Die frühe DDR (Köhler ist in Sachsen aufgewachsen), der doofe Lindenberg-Mythos St. Pauli („Geile Meile, auf die ich kann“), Gentrifizierung, Alexis Zorbas, Transsexuelle, William S. Burroughs, Existenzialismus (Köhler liest Camus) und die Selbstverständlichkeit, mit der man Frauen fickt, leckt und schlägt, kommen darin vor. Zum Schluss wird minutiös die Geschichte des Star Clubs erzählt, was Schamoni sich hätte schenken können, denn die Geschichten um die Herren Weissleder, Koschmider und Fascher – inklusive des legendären Auftritts von John Lennon mit Klobrille – kann man nun wirklich überall nachlesen. Leider kann Schamoni auch nicht besonders gut schreiben, deshalb sei das Hörbuch empfohlen: Denn vorgelesen wirkt Große Freiheit wie eine Reportage aus einer längst vergangenen Zeit, deren Spuren aber bis heute nachwirken.

Mirela Onel