HÖRBUCHT

EINE-WELT-LADEN

Die Welt ist verrückt. Ein Moloch. Dürren, Smog, Waldbrände. Kriege, Katastrophen, Zerstörung. Untergänge, Artensterben, Plastikmeere. Polarkappenschmelze. Menschen. Aus größerer Distanz betrachtet, mit dem nötigen Abstand, etwa von der Internationalen Raumstation ISS aus oder gar vom Mond, muss man sagen: Was für ein Saftladen! Und man darf da kein Blatt vor den Mund nehmen. Mit zeitlicher Distanz betrachtet, weiß man die Dinge einzuordnen. Für sich selbst, vielleicht aber auch für die Welt, die sich umgekehrt dreht.

In der Hörbucht

Björn Simon

Jörg Fauser

Rohstoff

Diogenes

5 Sterne

Jörg Fauser

Das Schlangenmaul

Diogenes

4,5 Sterne

Wenn man Werke wieder liest, die einen als Teenager fasziniert haben, tritt oft eine mehr oder weniger große Enttäuschung ein: Was – das hat man einst gut gefunden? Mit den Romanen von Jörg Fauser verhält es sich umgekehrt: Sie sind noch viel brillanter, als man sie in Erinnerung hat.

Rohstoff ist das, was man einen Schlüsselroman nennt: Mehr oder weniger camoufliert tauchen in dem Roman Gestalten der Zeitgeschichte wie Carl Weissner, Jürgen Ploog, William S. Burroughs, Joseph Wintjes, Hans A. Nikel oder Lutz Reinecke auf und erzählen so die Geschichte der Nach-APO-Zeit in den 70er Jahren, als man alles noch furchtbar ernst genommen hat. Das konnte Fauser alias Harry Gelb schon damals nicht, weshalb er als „politisch unzuverlässig“ (eine der denkbar schlimmsten Charakterisierungen, die es damals gab) galt. Lieber, als sich an politischen Diskussionen der diversen K-Sekten zu beteiligen, saß Fauser in Absturzkneipen herum und betrank sich (eine Angewohnheit, die ihn schließlich das Leben kosten sollte). Wer die 70er Jahre miterlebt hat, wird fassungslos vor Fausers diagnostisch präzisem Blick erbleichen – genau so war’s! Dass ein unerträglich eitler Schauspieler wie Lars Eidinger, der sich in jedem Interview ungefragt als Deutschlands Bester ausruft, hier so zurückgenommen liest, liegt vielleicht auch an Fauser – deklamatorische Posen sind unnötig.

Das Schlangenmaul dagegen ist ein sogenannter Hardboiled-Krimi; Fauser war ein großer Fan der Kunst von Raymond Chandler und Dashiell Hammett. Es geht um einen Privatdetektiv, einen ehemaligen Journalisten, der einen verschwundenen Teenager im Berlin der 80er Jahre ausfindig machen soll. Der Roman ist ganz nebenbei eine unglaublich gute Beschreibung des verschwundenen West-Berlins, allein die Beschreibung der Kantstraße, die so längst nicht mehr existiert, ist Gold wert. Bei der Krimi-Handlung dagegen muss man ab und zu ein Auge zudrücken und ganz fest daran glauben, dass sich das alles so zugetragen haben könnte – sonst muss man lachen, denn die Geschichte um eine krude Sex-Sekte, die mit Giftschlangen hantiert, ist ein wenig „over the top“. Das lenkt aber nie davon ab, dass Fauser eine Sprache benutzt, die aus der deutschen Gegenwartsliteratur leider längst verschwunden ist – ein wenig davon findet sich immerhin noch bei Autoren wie Clemens Meyer (Im Stein). Charly Hübner, dieser wunderbare Schauspieler, der den Polizeiruf aus Rostock mit seiner Muffeligkeit prägt, breitet das ganze Panorama der merkwürdigen Charaktere von Schlangenmaul vor uns aus.

Rolf Thomas

Wolfgang Welt

Ich schrieb mich verrückt

tacheles! / Roof

5 Sterne

Mit den Worten „Sie haben gerade sechs meiner Lieblingslieder ermordet“, gerichtet an die Rocksängerin Helen Schneider, beginnt eine der merkwürdigsten Karrieren der Literatur und des Musikjournalismus. Der Bochumer Wolfgang Welt steigt schnell auf und schreibt für SOUNDS und MUSIKEXPRESS, landet wegen einer bipolaren Störung – manisch-depressiv nannte man das damals noch – in der Klapse und reüssiert währenddessen und anschließend als Schriftsteller, dessen autobiografische Romane es, nicht zuletzt dank der Fürsprache Peter Handkes, bis in den Suhrkamp Verlag schaffen.

Vor ein paar Jahren ist Welt gestorben; Grund genug für seinen Bochumer Kollegen Frank Goosen, mit dieser CD an den (Musik-)Journalisten Wolfgang Welt zu erinnern. Wer würde schon glauben, dass man sich Rezensionen aus einer längst eingegangenen Ruhrgebiets-Postille wie MARABO heute noch mit Gewinn anhören kann? Doch die virtuosen Beleidigungen und präzisen Geschmacksurteile des Wolfgang Welt möchte man einfach immer wieder hören (was man anhand der Repeat-Taste ja auch ganz einfach kann). Dabei muss man nicht einmal mit den Urteilen Welts übereinstimmen, um intellektuelles Vergnügen zu empfinden. Jackson Browne? – „Intellektueller Kitsch für zartbesaitete Doktorandinnen“; Herbert Grönemeyer? – „Unter aller Sau“; Cabaret Voltaire? – „Empfehlenswert für Lebensmüde, denen der letzte Anstoß zum Suizid fehlt“; Michael Franks? – „Wem der Arzt kein Valium mehr verschreibt, der hat hier den richtigen rezeptfreien Ersatz“.

Welt liefert auch erschütternd ehrliche Beschreibungen der Stimmungslage aus dem proletarischen Kiez, dem er entstammt: „Tut mir leid – unter meinen Bekannten, mehr Malocher als Intellektuelle, von denen keiner was an die CDU spendet, empfand keiner Mitgefühl: Schleyer war nun mal der Feind an sich, ein Ausbeuter und ehemaliger SS-Freiwilliger, ein ‚fieser Typ‘ (meine Mutter).“ Das Portrait seiner Mutter („Abschied von der Trümmerfrau“) ist in seiner ganzen Lakonik, die Goosen wunderbar trifft, einfach nur erschütternd. Einen Typen wie Heinz Rudolf Kunze dagegen trifft Welts ganze Verachtung. Erstaunlich, wie präzise er das Unvermögen des unsympathischen Kampfhund-Freundes und Deutschquoten-Kämpfers schon bei dessen Debüt-Album erkannt hat: Kunze „kann nicht singen, ist aber sehr von sich angetan“, er sei ein „belesener Rotzlöffel“, ein „unheilbarer Streber“, er „bosselt verklemmt mit Versmaßen herum“, benutzt „dämliche Metaphern“ und „Beobachtungen aus zweiter Hand“, kurz: „eine Art singender Erhard Eppler“ oder schlicht „eine Null“. Kunze war schwer beleidigt.

Rolf Thomas