Jazzdor

Straßburg

Von Peter Bastian. Als Besucher von Jazzdor in Straßburg müsse man bereit sein, sich mit dem Unbekannten einzulassen, den Moment wahrzunehmen und in den Klang einzutauchen, so Philippe Ochem, der jetzt die 33. Ausgabe des Festivals präsentierte. Natürlich kann man als Auswärtiger nicht alle Konzerte eines zweiwöchigen Festivals besuchen. Dann muss man damit leben, das (wie man hörte) grandiose Konzert von Das Kapital mit 60 klassischen Musikern zu verpassen. Das muss wirklich eine Eisler Explosion gewesen sein.

Das Schöne bei Jazzdor – sowohl im Elsass als auch in Berlin – ist, dass Ochem „seine“ Musiker über Jahrzehnte begleitet und man so die verschiedenen Facetten der Künstler kennenlernt. Bei der Jazzpassage in der Offenburger Reithalle geriet das Konzert von Michel Portal (cl) wieder zu einer Perle. Zwischen ihm und seinem belgischen Schlagzeuger Lander Gyselinck liegen 53 Jahre, doch musikalisch verstehen sie sich bestens. Nils Wogram, Bruno Chevillon und Bojan Z komplettieren diese wunderbare Band. Herrlich abgefahren war die „Lobrede“ des Gastsängers Andreas Schaerer auf Portal in „Cuba Si Cuba No“ in einer spanischen Fantasiesprache. Dessen Quartett mit Luciano Biondini (acc), Kalle Kalima (g) und Lucas Niggli (dr) erzählte vorher eine wunderbare, jazzige, rockige und freie „Geschichte der Anomalie“.

Aki Rissanen versucht die schwierige Gratwanderung, dem Klaviertrio neue spannende Aspekte abzugewinnen. Das gelingt in einigen Momenten, sonst klingen die Stücke recht konventionell. Mingus, Miles und Betty Davis grüßen aus dem Hintergrund der Musik des Klarinettisten Jean-Marc Foltz. Dem Quartett des Pianisten Alexander Hawkins, Shooting Star des britischen Jazz, drückt die Sängerin Elaine Mitchener ihren Stempel auf. Auf die Idee, Songs von Jeanne Lee und Patty Waters neu zu interpretieren, muss man erst mal kommen.

Der vielversprechende Altsaxofonist Antonin-Tri Hoang und der Pianist Romain Clerc-Renaud zerlegen in ihrem Quartett Novembre ihre Stücke nach Belieben und collagieren, wiederholen und spiegeln sie, wie es ihnen passt. Das klingt dann mal nach 30er Jahre, Free oder zeitgenössischer E-Musik: faszinierend! Das Quatuor Machaut bespielt mit vier Saxofonen die große Eingangshalle des Musée d’Art Moderne et Contemporain und bearbeitet dabei die Messe de Nostre Dame von Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert. Das ist das Großartige eines solchen Festivals: wie viele spannende Klänge, die sich aus verschiedensten Quellen speisen, man vor Augen und zu Ohren geführt bekommt. Nur selten geht das mal schief wie beim Trio der japanischen Schlagzeugerin Yuko Oshima. Dominique Pifarély (v) hingegen bietet mit seinem Septett akademische, aber auch sehr schöne Klänge und verarbeitet dabei Gedichte von Paul Celan zu Themen wie Exil, Vertreibung und Flucht.

Archie Shepp, Kirk Lightsey © Peter Bastian

Sein Ton auf dem Tenor ist immer noch schön rau und dreckig: Archie Shepp. In seinem Quartett wurde der verletzte Pianist Carl Henri Morisset – schöne Überraschung – durch den 81-jährigen Kirk Lightsey ersetzt, Bass spielte Matyas Szandal, am Schlagzeug saß Shepps langjähriger Begleiter Steve McCraven. Wer Shepp schon lange hört, dem ist sein Ton so vertraut, dass er zum Leben einfach dazugehört. Der Auftritt bildete den berührenden Abschluss des Festivals.