JazzFest

Berlin

© Stefanie Marcus

Von Victoriah Szirmai. Im zweiten Jahr unter Kuration von Nadine Deventer trägt das JazzFest Berlin schon am Vorabend der drei Festivaltage deutlich ihre Handschrift: mit dem von ihr selbst als „Einladung zur absoluten Überforderung“ bezeichneten sechsstündigen Großprojekt Sonic Genome von Avantgarde-Legende Anthony Braxton. Sie wolle nun einmal kein Wohlfühlrepertoire für alle programmieren, so Deventer. Gelungen ist ihr dies nicht, denn nur selten hat man sich inmitten herausfordernder Klänge so behaglich gefühlt wie beim 56. JazzFest.

Auch wenn man denken sollte, die Aufregung des vergangenen Jahres um Generationswechsel und Neuausrichtung sei einer Art erwartungsvoller Vorfreude gewichen, hatte Deventer auch 2019 wieder scharfe Kritiker, die diesmal vor allem bemängelten, dass es schwierig sei, ein Festival allein auf Avantgarde-Künstlern aufzubauen. Dabei wird gern vergessen, dass das Jazzfest immer schon Avantgarde, ja richtiggehender Nachkriegsspießbürgerschreck war. Deventer, so die Nörgler, habe aus dem Jazzfest ein zweites A L’ARME! gemacht. Nur: Vor A L’ARME! schreckt der mit Avantgarde üblicherweise nicht freundelnde Besucher zurück. Zum JazzFest hingegen kommt er, wie die diesjährigen 7000 Zuschauer hinlänglich bewiesen.

Wo das von Ensembles wie dem Andromeda Mega Express Orchestra und dem Meister höchstselbst in lockeren, sich stetig neu zusammenfindenden und wieder auflösenden Gruppierungen wiedergegebene Sonic Genome bereits mit einigen magischen Momenten aufwarten konnte, die immer dann besonders zum Tragen kamen, wenn das Klangmaterial mit dem an Raum nicht eben armen Gropiusbau eine Symbiose einging, verströmte der erste Festivalabend pure Magie für denjenigen, der es verstand, sich seinen ganz eigenen Rhythmus in das Geschehen hineinzusuchen. Ob nun Lillingers Leute, die an einen sich selbst überlassenen Kindergarten erinnerten, der wild durcheinander alle Spielgeräte durchprobiert, die ihm gerade in die Finger geraten, das auf mit suggestiver Sirenenstimme vorgetragene Ein-Wort-Poesie setzende, hypnotisch-reduzierte Australian Art Orchestra oder das mit Lokalmatadoren wie Petter Eldh oder Otis Sandsjö aufwartende Late Nite Lab – wer sich trotz des einen oder anderen Kopfschmerzmoments darauf einzulassen wusste, wurde mit wahrhaftiger Schönheit belohnt. Dies galt uneingeschränkt auch für den mit Künstlern wie Ambrose Akinmusire oder der hr-Bigband feat. Joachim Kühn programmierten zweiten Festivalabend.

© Stefanie Marcus

Wem zwischendurch doch mal alles zu viel wurde, der zog sich in die Magic-Mushroom-Installation des umtriebigen KIM Collective zurück, um sich zum Flötenspiel von Paul Berberich fragen zu lassen: „What‘s your biggest fear?“ Mittlerweile hatte man sich so sehr in den Festivalsound eingehört, dass einem auch Braxtons eher sperrige ZIM Music, in der man ferne Echos längst vergessener Tangos zu erahnen meinte, meditativ erschien. Selbst Marc Ribots hochenergetischer Festivalabschluss fügte sich nahtlos in den Flow. Man lag auf Matratzen, ließ Klangwellen über sich zusammenschlagen und fühlte sich selig wie dereinst im Mutterbauch.

Natürlich können jene Gralshüter, die sich immer noch davon verärgert fühlen, dass Deventer in ihren Augen „die Frauenkarte allzu sehr ausgespielt“ habe, auch weiterhin vom „Boykott der Wichtigen“ faseln. Nur dass diese bald nicht mehr wichtig sein werden, wenn es ihnen nicht gelingt, die in diesem Jahr endgültig vollzogene ästhetische Neuorientierung und Verjüngung des JazzFests zumindest geistig nachzuvollziehen.