Jazzfest Berlin
In der Nähe des Zeitgeistes
Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Und zwar in jedem Herbst zum Jazzfest, das lange als das wichtigste Festival Europas, wenn nicht des Planeten galt. Schließlich war es auch der Mann, den man in Deutschland „Jazzpapst“ nannte, mit dessen Namen das Festival in seinen Anfängen eng verbunden war. In diesem Jahr wird 60-jähriges Bestehen gefeiert.
Von Hans-Jürgen Linke
Der Intendant der Berliner Festwochen, Nicolas Nabokov, hatte Joachim-Ernst Berendt vorgeschlagen, ein Jazz-Festival zu gründen. Mit Ralf Schulte-Bahrenberg machte der sich an die Arbeit, und ab 1964 gab es die „Berliner Jazztage“. Nach einem Gerichtsverfahren mussten sie 1981 in „Jazzfest Berlin“ umbenannt werden.
Berendts konzeptionelle Idee war wirkungsvoll und vergleichsweise einfach. Das Festival in der noch geteilten Nicht-Hauptstadt sollte den ganzen Jazz abbilden – den traditionellen, den glamourösen, den progressiven, den internationalen. Auch stand von Anfang an ein politischer Aspekt des Jazz mit im Fokus: seine internationale Anschlussfähigkeit und ein von Berendt stets betonter emanzipatorischer, freiheitlicher Grundzug. Zum ersten Festival unter dem Thema „Schwarz-Weiß, Afrika-Europa“ gab es ein Geleitwort von Martin Luther King, das einen engen Zusammenhang zwischen Jazz und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung herstellte.
Von finanziellen Beschränkungen des Festival-Etats war in den ersten Jahren öffentlich nichts bekannt. Berendt hatte die ARD mit ins Jazz-Boot geholt, und das Festival machte den Eindruck, es könne einladen und bezahlen, wen und wie viel es wollte. Nach Berlin kamen die wichtigsten internationalen, und das hieß vor allem: US-amerikanischen Jazzgrößen. Während der ersten Dekaden war die Berliner Philharmonie der zentrale Festival-Schauplatz, in den 1990er Jahren das Haus der Kulturen der Welt, mittlerweile ist es das Haus der Berliner Festspiele. Die Jazzclubs Quasimodo und A-Trane sowie die Akademie der Künste, eine Zeitlang auch das Kino Delphi, wurden parallele Festival-Spielorte.
Die Idee, den ganzen Jazz zu präsentieren, erwies sich ab 1968 als schwer haltbar. Ein bekleidungspolitischer Konflikt – Peter Brötzmann wollte keinen Vertrag unterschreiben, der seine Band zum Auftritt im dunklen Anzug verpflichtete – gab den Anlass, das Total Music Meeting ins Leben zu rufen, das unter Federführung von Jost Gebers als Festival der frei improvisierten Musik fortan parallel zu den Jazztagen veranstaltet wurde. So hielt sich das Festival in einem mehrfachen Sinne immer in der Nähe des Zeitgeistes auf.
Dafür sorgte auch Kritik an Festivalkonzepten, die ständiger Begleiter des Festivals und des Öfteren auch Anlass für programmatische Kurskorrekturen waren. 1972 überließ Berendt den Platz des Künstlerischen Festivalleiters George Gruntz, der den inhaltlichen Schwerpunkt zunehmend auf Fusion-Jazz legte und so dem Total Music Meeting nebenan mehr Legitimation und Zulauf verschaffte. Auch das meinungsfreudig-spontane Berliner Publikum mischte sich immer mal ins Programm – etwa indem es 1973 eine müde Duke-Ellington-Vorstellung gnadenlos auspfiff oder 1978 mit Randale und Sitzblockaden reagierte, als Miriam Makeba und Abdullah Ibrahim kein abendfüllendes Programm bieten konnten. Das Publikum lieferte das Motiv für Carla Bleys 1979 uraufgeführte Komposition „Boo to You Too“.
Vorwürfe stagnierender Programmausrichtung führten ab 1995 zu wechselnden Leitungen. Von 1995 bis 2000 war Albert Mangelsdorff Künstlerischer Leiter, Nils Landgren übernahm 2001, John Corbett 2002, von 2003 bis 2007 leitete Peter Schulze das Festival, von 2008 bis 2011 wieder Nils Landgren, Bert Noglik von 2012 bis 2014, danach von 2015 bis 2017 Richard Williams. Seit 2018 ist mit Nadine Deventer die erste Frau Künstlerische Leiterin.
Jeder der bisherigen Verantwortlichen hat, mit mehr oder weniger öffentlicher Anerkennung, dem Festival seine persönliche Prägung zu geben getrachtet, was allerdings bei nur einmaliger Leitungsfunktion – wie bei Nils Landgren 2001 und John Corbett 2002 – nicht gelingen konnte. Albert Mangelsdorffs Aufmerksamkeit galt vor allem den europäischen Tendenzen im Jazz. Peter Schulze knüpfte mit einigen Ansätzen zur Horizonterweiterung daran an. Nils Landgren lenkte ab 2008 den Blick verstärkt auf Skandinavien und den Mainstream, Bert Noglik verschaffte der improvisierten Musik wieder mehr Aufmerksamkeit und war der Künstlerische Leiter des Festivals zu seinem 50. Jubiläum. Richard Williams gab ab 2015 neuen Entwicklungen im internationalen Jazz großes Gewicht.
Mit Nadine Deventer hat seit 2018 zunehmend eine selbstreflexive Verortung des Jazz im gesellschaftlichen Diskurs die Konzeption geprägt. Diskussionen um die Situationen zwischen Musiker*innen und Publikum, wie sie in der Neuen Musik seit Jahren geführt werden, um gesellschaftspolitische Entwicklungen und die Themenschwerpunkte Gender und Race prägen die Programmgestaltung. 2021 erhielt das Jazzfest den „Europe Jazz Network Award for Adventurous Programming“. Zum 60. Geburtstag gab es im Sommersemester zwei Seminare an der Universität Hildesheim mit Bettina Bohle und an der Universität der Künste mit Matthias Pasdzierny. Eine vielstimmige Auseinandersetzung des Festivals mit seiner eigenen Geschichte, seinen Mythen, seinen Exponent*innen findet unter der Überschrift „Jazzfest Research Lab“ statt. All das wird ins Rahmenprogramm und das Jubiläumsmagazin des 2024er-Jazzfestes einfließen. Wir fahren nach Berlin.
Website:
www.berlinerfestspiele.de/jazzfest-berlin