Jazzkaar / Tallinn Music Week

Tallinn & Narva

© Tanel Tero

Von Angela Ballhorn. Endlich konnte die Jazzkaar in Tallinn wieder an ihrem angestammten Termin in der letzten Aprilwoche stattfinden. Und endlich konnten nach zwei Pandemiejahren wieder Künstler aus dem Ausland auftreten. Anne Erm, die das Festival im 33. Jahr kuratiert, konnte aus dem Vollen schöpfen: Von Diva und großer Jazzbühne (Dee Dee Bridgewater mit der Estonian Dream Big Band) über eine fantastische Hommage an den estnischen Wald bis zu den Dirty Loops aus Schweden – im diesjährigen Programm war für jeden etwas dabei.

Zu den Highlights gehörten Avishai Cohen (tp) mit seiner Band Big Vicious, die Elektronik, Ambient und Jazz geschickt verschmilzt, und die Sängerin China Moses. Ihr Gig war ein All-inclusive-Paket mit grundsoliden Songs, Therapie- und Trennungsbewältigungstipps sowie Essays zu afroamerikanischer Geschichte. Die Dirty Loops bewiesen, dass nerdig-frickeliger Funkpop nicht nur für Musiker interessant ist, sondern auch Massen zum Tanzen bringt.

Kenny Garrett begeisterte mit Soul und Jazz mit einer Prise Afrocuban Grooves und einer unerreichten Fassung von „Body and Soul“, bei der ein Teil der Band im komplett anderen Tempo und Salsa-Groove blieb und der Zuhörer sich wie vor zwei Clubs mit geöffneten Türen fühlte. Cyrille Aimée kühlte das Publikum charmant wieder runter. Ein weiterer Star kam aus Brasilien: Mandolinen-Virtuose Hamilton de Holanda gab neben einer Hommage an Tom Jobim einen Vorgeschmack auf sein im nächsten Jahr erscheinendes Album.

Neben den internationalen Stars bestach das Festival durch die einheimischen Musiker: Peedu Kass (b) und Joel Remmel (p) eröffneten die Woche mit einer Ode an den estnischen Wald, Mingo Rajandi (b) begeisterte mit der Schauspielerin Eva Koldits – ein sprudelnder Quell an interessanten Ideen und Groove-Elementen. Maria Faust (sax) bezauberte mit einem spröden und wilden Konzert ihres Trios Jazz Catastrophe, Youngster Holger Marjamaa mit virtuosem Klaviertrio, Kadri Voorand (voc) mit ihrem Relax-Konzert – mit Matratzen im Zuhörerraum. Cätlin Mägi baute schließlich einen ganzen Klangkosmos mit einem Arsenal von Maultrommeln und Elektronik auf. Pianist Kristjan Randalus Programm mit Streichquartett und der Sängerin, Schauspielerin und Politikerin Siiri Sisask war musikalisch spannend, für Nicht-Muttersprachler aber schwierig zu verfolgen.

Nach Wegfall der Corona-Regeln wurde die Tradition der Home Concerts wieder aufgegriffen. So gab es ein intimes Konzert der Nachwuchssängerin Anett Tamm in der Altstadt mit Blick auf die trutzigen Türme und eines von Raivo Tafenau (sax) und Meelis Vind (b-cl) in einer hochmodernen Villa in Ostseenähe. Eine Kooperation mit Katowice sorgte für einen Musikeraustausch der Festivals, nach Tallinn kamen Maciej Obara mit seinem energiegeladenen Quartett sowie Trio_io, die introvertierte improvisierte Musik präsentierten.

Das Festival mit 18.000 verkauften Karten ging fast nahtlos in die Tallinn Music Week (TMW) über. An zwei Abenden stellten sich neue junge Bands im Philly Joe’s in der Altstadt vor. Kemaca Kinetic aus Dänemark, Marja Aarma oder LUUM konnten neue Fans gewinnen. Eröffnet wurden die Musiktage von einem großen Open-Air-Konzert des ukrainischen Popstars Ivan Dorn. Mehrere Podiumsdiskussionen befassten sich mit der Situation in der Ukraine und Initiativen, wie vor allem Musikern geholfen werden kann. Die zweite Hälfte der TMW wurde in die östlichste Stadt Estlands, nach Narva, verlegt. Musik und Podiumsgespräche dort hinzubringen, wo über 90 Prozent der Bevölkerung Russisch sprechen und viel Abwanderung und Verfall herrscht, war ein deutliches Zeichen, dass man die Bevölkerung direkt an der russischen Grenze nicht vergessen hat.