Jazztopad

Wrocław

Von Jan Kobrzinowski. In Wrocław ist der Listopad, der polnische November, der Jazzmonat Jazztopad. Dank erneuter Zusammenarbeit mit dem Nationalen Musikforum (NFM) stand dem künstlerischen Leiter Piotr Turkiewicz das monumentale Musikgebäude der Stadt erneut für improvisierte Musik zur Verfügung. Charles Lloyd führte Wild Man Dance mit der NFM Filharmonia Wrocławska auf. Mit Shake Stew und chuffDRONE kamen zwei trendige Formationen aus Österreich. Aus Chicago reisten Makaya McCraven mit Quintett und aus London The Comet Is Coming an. Die Tuva-Vokalistin Sainkho Namtchylak und Ned Rothenberg (cl, sax) luden zum „Meditation Day“ ein, und der interdisziplinäre „Melting Pot Made in Wrocław“ brachte vorwiegend weibliche Künstler aus mehreren europäischen Ländern zusammen.

Für mich begann Jazztopad in der zweiten Woche mit einem Highlight: drei Formationen rund um den französischen Cellisten Vincent Courtois, der Auftrags-Musik für sein Gespann Courtois-Erdmann-Fincker (siehe Feature in JAZZTHETIK 01/02 2020) und das Lutosławski Quartet kreiert hatte. Die großartigen Streicher entdeckten mit Courtois ihre Lust an freier Improvisation. Anderntags eröffnete der Piano-Nerd Grzegorz Tarwid mit seriellen, messerscharf perkussiven Klängen – Musik mit Alleinstellungsmerkmal, schwer beschreibbar, in Gefahr der erbarmungslosen Zurschaustellung einer sehr spezifischen Spieltechnik.

Die Befreiung klanglicher Schönheit von Vereinnahmung durch gesellschaftliche und kulturelle Lasten, das wollte die Chicagoer Avantgarde-Flötistin Nicole Mitchell mit ihrem Artifacts Trio (Mike Reed, dr, perc, und Tomeka Reid, cello) und dem Kammerensemble NFM Orkiestra Leopoldinum erreichen. In der Premiere von Decolonizing Beauty gab es Momente von großer Magie, wenn kleinere Besetzungen Gelegenheit zu freierem Spiel hatten. Piotr Damasiewicz’ Power of the Horns traten mit Pathos und großer Geste an. Nach zu langer Einführungsrede und gut zweistündigem Festivalbeitrag im Großen Saal des NFM machte sich Unmut im Publikum breit. Ein wenig Bescheidenheit, auch im Gestus der musikalischen Darbietung, hätte gutgetan. Wie hätte das Ganze wohl ausgesehen, wenn der Trompeter und seine Männer, darunter Starsaxofonist Maciej Obara, die Bühne mit ein paar gestandenen Frauen geteilt hätten? Sympathien erspielte sich danach im Mleczarnia-Club das Longhand Trio aus Kanada mit swingendem, aber Avantgarde-nahem Triojazz. Gitarrist Tony Wilson war auch als intensiver Improvisator bei den freien Sessions im Club präsent.

Im Duo Wadada Leo Smith/Vijay Iyer trafen sich im großen NFM zwei Charismatiker zu kompromisslos in der Gegenwart entstehender kontemplativer Musik. Smith zeigte nur ein, zwei Mal die Wildheit, für die er und seine lange Geschichte stehen. Die Premiere von Danilo Pérez’ Global Messengers zeigte, dass Weltmusik nicht ohne Tücken ist. Der Pianist ließ Meisterschaft aufblitzen, alle beteiligten jungen Musiker aus Palästina, Jordanien, Griechenland und den USA erwiesen sich als souveräne Könner ihres Fachs. Bei Pérez’ schlüssiger dreisätziger Komposition Fronteras blitzte erhabene Schönheit auf. Ob Weltfrieden und Harmonie aber einfach durch den virtuosen Mix aus vorderasiatischen, Latin-, R&B-, Gospel- und Jazzelementen erreicht werden kann, bleibt fraglich. Mit einem Klassiker des Genres schloss das diesjährige Jazztopad-Programm: Rundum hochmusikalisch, mit großer Bescheidenheit in Sound und Ausführung boten Anouar Brahem und seine drei Mitmusiker mit der Wiederaufführung von The Astounding Eyes of Rita (herausragend: Klaus Gesing, b-cl) in der großen NFM-Halle ästhetischen Hochgenuss und dazu richtig etwas für die Seele.

Am Wochenende konnte Jazztopad dank der Gastfreundschaft engagierter Wrocławer Bürger wieder zu intimen Wohnzimmer-Konzerten mit Festivalmusikern und lokalen Improvisatoren einladen. Jazztopad gab Einblick in die Gegensätze zwischen komponierter und improvisierter Musik, Tradition und Avantgarde, intimer und großer Kulisse und löste diese zeitweise auf. Es zeigte, dass sich Stile und Genres nicht immer zu einem neuen Ganzen vereinen müssen. Auch im Nebeneinander kann große Kunst liegen. Ein Festival wie dieses kommt gerade recht, um sich in mehreren Welten gleichzeitig gut einzurichten, und das Leben mit Ambivalenzen genussvoll zu bejahen.