© Stefan Pieper

JOE-Festival

Essen

Von Stefan Pieper. Dass der Nachwuchs – zumindest musikalisch – schon frühzeitig für den Mainstream verloren ist, dafür sorgt das Essener JOE-Festival: Eine bunte Schar angehender Musikfans im zarten Alter ab vier Jahren stürzte sich mit Xylofonen, Geigenbögen und diversen Perkussionsinstrumenten in den Klangstrom von drei Musikern des Kölner Impro-Kollektivs Unsub Tül. Dabei gab es nur eine Vorgabe: Freiräume erkunden. In diesem Fall ging es um nichts Geringeres als das Aufspüren der Klänge verschiedener Planeten. Durch so etwas wird jeder empfänglich für alles, wofür das JOE-Festival in Essen steht – und was an drei langen Abenden wieder zuverlässig geliefert wurde: künstlerische Qualität ohne Kompromisse. Verlässlich und mit Herzblut kuratiert von Patrick Hengst und Simon Camatta. 

Oli Steidle, versierter Schlagzeuger der freien Klänge aus Berlin, fand mit der Leipziger Gitarristin Steffi Narr ein kraftvolles Pendant. Im Maschinenhaus der Zeche Carl konfrontierten beide ihre Energiefelder miteinander – in manchmal brachialen, aber oft auch subtilen perkussiven, akustischen, elektrischen und elektronischen Ausdrucksformen. Beim Quartett Hilde ist die Besetzung mit Stimme (Marie Daniels), Cello (Amelie Wittbrodt), Geige (Julia Brüssel) und Posaune (Maria Trautmann) an sich schon ungewöhnlich – mehr noch scheint die empfindsame kammermusikalische Dramaturgie dieser Band eine neue Kunstform definieren zu wollen. Neue Musik, freie Improvisation, aber auch sehr konkrete Song-Lyrik, ebenso geerdete Jazzstrukturen bis hin zum Blues – all das berührte sich in fantasievollen, zugleich plausiblen Assoziationsräumen.

An grandiosen Live-Momenten ist die bereits drei Jahrzehnte währende Historie von JOE definitiv nicht arm. In diese Galerie konnte sich der Auftritt von Jakob Bro, Arve Henriksen und Jorge Rossy einreihen. Organisch wuchernde Kollektivimprovisationen umkreisten hochverdichtete emotionale Zentren, wie es schon viele einschlägige ECM-Veröffentlichungen seit den 1970er Jahren vorgemacht haben. Dieses Trio holte all dies mit einer solchen Wucht in die Gegenwart, als wäre gerade eine rituelle Handlung im Gange. Arve Henriksen stand permanent die Glückseligkeit im Gesicht, und so klang auch die Musik.

Auch der Vibrafonist Jim Hart war nicht zum ersten Mal beim JOE. Aktuell stand er im Duo mit dem Pianisten Ivo Neames auf der Bühne. Das wurde auf Anhieb zur symbiotischen Sternstunde rhythmischer Strukturen und Klänge. Und ja: Jim Hart ist eben nicht nur ein leidenschaftlicher Malletspieler, sondern mindestens ein ebenso genialer Schlagzeuger. Als würde sie die äußerst produktive Zeit als Improviser in Residence beim Moers-Festival 2022 noch fortsetzen wollen, kam die Cellistin Tomeka Reid nochmal von Chicago nach NRW geflogen, diesmal in der seit 2018 bestehenden Triobesetzung mit Craig Taborn (p) und Ches Smith (dr). Eine aufregende Band, die alles auf einen ähnlichen Level anhob, wie es Jakob Bro mit seinem Trio zwei Abende zuvor betrieben hatte. Aber mit ganz anderen, im eigentlichen Sinne „jazzigeren“ Farben und mit einem unersättlichen Weitblick gesegnet.