HÖRBUCHT

ZEITRAFFER

Langsamgeher.* Eckensteher. Zeithaber. Wie eine Pandemie die Menschen verändert. Weg mit Drive und Speed, dem Gehetze. Es wird gebummelt. Stehenbleiber stehen im Weg rum. Gaffend. Maulaffen feilhaltend. Sinnierend. Auflaufen lassend. Zuspätkommer kommen zu spät. Weg mit Ehrgeiz und Antrieb. Home mit dem Office. Die Hose bleibt aus, auch in der Videokonferenz – reicht, wenn der Ton an ist. Die Seuche geht, die neuen Sitten bleiben. Kontaktlos. Maskiert. Zeitversetzt. Zeit spielt keine Rolle. Zeit für alle Details dieser Welt. Rhythmus der Herzen. David Lynch meets Wim Wenders. Hymnen und Verrisse. In der Hörbucht…

Björn Simon

(*allgemein männliche Formen sollen die weiblichen hier immer mitdenken lassen)

Ingrid Lausund

Bin nebenan – Monologe für zuhause

Speak Low

5 Sterne

Es könnte doch so schön sein. Und irgendwie ist es das ja auch, an der Oberfläche. Eine mit Geschmack eingerichtete Wohnung, ausgesuchte Möbelstücke und Accessoires, die das Stilgefühl und den Individualismus ihrer Besitzer verraten – was will man mehr? Die Figuren in Inge Lausunds Bin nebenan – Monologe für zuhause wollen mehr, auch wenn sie es sich nicht eingestehen oder versuchen, es zu verdrängen. Und genau da fangen die Probleme an – wenn das angestrengt demonstrative Wohlfühlen zur Pose gegenüber anderen und sich selbst wird.

Die bereits 2008 veröffentlichte Textsammlung der Autorin und Regisseurin, die u.a. unter dem Pseudonym Mizzi Meyer die Drehbücher zur TV-Serie Der Tatortreiniger geschrieben hat, hat einen bemerkenswerten Erfolgsweg durch die deutsche Theaterlandschaft hinter sich. Jetzt hat sich Bjarne Mädel der Texte angenommen, um sie mit einer erstklassigen Sprecherriege in ein Hörbuch zu verwandeln, auf dem in vordergründiges Glück immer wieder Trauer, Schmerz und Verunsicherung einbrechen. Schnell ist klar: In den zwölf Texten geht es weniger darum, sich in einer Wohnung einzurichten als im eigenen Leben. Und da hilft auch die ausgeprägteste Gabe zur Selbstreflexion nicht weiter, im Gegenteil. Das Kreisen um sich selbst bietet keinen Schutz vor Lebenslügen, Selbstbetrug und einer tiefen Traurigkeit.

Der Auftakt („Sofa“) mit Bastian Pastewka gerät noch vergleichsweise leicht, wenn sich der Ich-Erzähler trotzig gegen die eigene Ausrechenbarkeit auflehnen will, aber feststellen muss, dass die Marktforschung ihm immer schon einen Schritt voraus ist und selbst seine Auflehnung vorhersieht und kommerzialisiert. Schon bald weiß man nicht mehr, auf der wievielten Metaebene man sich gerade befindet. Doch schnell tun sich Abgründe auf. In die Beschreibung eines luxuriösen Schaumbads („Badezimmer“) werden, ausgelöst vom schlechten Gewissen der Badenden, Bilder von Bootsflüchtlingen in einer Dringlichkeit montiert, die den Atem stocken lässt. Fritzi Haberlandt trifft in „Teekanne“ glänzend den Ton einer Frau, die sich im Kontakt mit ihrer türkischen Haushaltshilfe an ihrer eigenen Gutmenschlichkeit ergötzt, hinter der doch nur Vorurteile und Herablassung stehen.

Nur ein Text – „Fernseher“, gelesen von Jens Harzer – fällt in seiner drastischen, aber simplen Aneinanderreihung von Männerklischees qualitativ ab. Erschütternd dagegen Matthias Brandts Darstellung der Gedanken eines Mannes am Abgrund, der vor der Zwangsversteigerung seines Hauses steht und sich in einer schlaflosen Nacht selbstquälerisch die Konsequenzen für seine Familie ausmalt und verzweifelt nach Auswegen sucht. Es ist ein bravouröses Defilee der Sprech- und Schauspielkunst, aus dem André Jungs Porträt eines verwirrten Akademikers in der Episode „Sammeltassen“ herausragt. Er modelliert die Innenansicht eines Gehirns am Rande der Psychose, in dem Wissen und Eloquenz mehr und mehr zerfasern und sich in schnellen Assoziationsketten auflösen. Das Hörbuch regt an, es strengt an, es zwingt zur Auseinandersetzung. Vielleicht die niveauvollste Art, sich runterziehen zu lassen, seit Mahlers Kindertotenliedern.

Guido Diesing

Dirk von Lowtzow

Ich tauche auf

Argon

1,5 Sterne

Wie Blixa Bargeld und Schorsch Kamerun, zwei andere Helden meiner Jugend, strebt auch Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow seit geraumer Zeit nach Höherem – in seinem Fall ist es die Literatur. Nach den Kindheitserinnerungen Im Dachsbau – die auch schon durch unbeabsichtigten Humor irritierten – erscheint nun mit Ich tauche auf eine Art verklausuliertes Tagebuch, in dem von Lowtzow schwermütig durch den intellektuellen Alltag mit allerlei Gebresten gleitet. Es ist Corona-Zeit – man merkt es zum Beispiel daran, dass von Lowtzow beim Einkaufen von einer Verkäuferin auf die Maskenpflicht hingewiesen wird –, und der Sänger und Schriftsteller leidet unter Rücken-, Magen- und Kopfschmerzen. Ich habe keine Ahnung, wer in der Jury des Literaturpreises der Stadt Wiesbaden sitzt – jedenfalls hat von Lowtzow den Preis im letzten Jahr bekommen. Warum ich das alles erzähle? Weil von Lowtzow so blasiert und schwerintellektuell daherkommt, dass man oft glaubt, es mit einer Parodie auf die Tagebücher und Briefe von Thomas Mann zu tun zu haben. Dann wieder scheint man das Augenzwinkern von Lowtzows zu sehen, der einem zu verstehen geben will: Ist doch nur Spaß! Letzten Endes fürchte ich dann aber doch: Das ist alles ernst gemeint. Was Tocotronic auszeichnet – kurze Texte, die gerade darum vor Prägnanz nur so strotzen –, das wird deren Texter hier zum Verhängnis: Die Tagebuchform lebt von Flüchtig- und Leichtigkeit, beides geht dem Texte zur Kunst-Autor ab. Ständig muss er Dostojewskij, Hartmut Bitomsky oder Mike Kelley erwähnen, als ob der Leser nicht wüsste, in welchen Geisteswelten Dirk von Lowtzow sich bewegt. Das hat so etwas penetrant Großspuriges, dass man permanent auflachen muss, wenn der Sänger mit gravitätischer Stimme seine eigenen Eintragungen vorliest. „Ich lerne den Toningenieur Tom kennen“ – eine solche Banalität trägt von Lowtzow mit derartiger Schwere vor, dass man sich nur noch an den Kopf fasst. Sex? Humor? Liebe? Kommt bei Dirk von Lowtzow nicht vor. Dafür aber das hier: „Die verchromten Metallstreben der Installation werden von Schmetterlingen aus Seidenpapier geschmückt“. Lesen oder hören Sie lieber die Tagebücher von Walter Kempowski oder Fritz J. Raddatz, denen Eitelkeit auch nicht fremd war – aber bei ihnen erfährt man etwas über die Welt. Bei Dirk von Lowtzow erfährt man leider nur, dass er sich ziemlich wichtig findet.

Rolf Thomas