The London Column

Einer der Gründe, warum ich Jazzmusik mag, ist, dass sie oft angenehme Überraschungen mit sich bringt. Ein befreundeter Gitarrist erwähnte, dass er in einem Pub praktisch um die Ecke von meinem Haus spielte. Da hatte ich keinen Grund, meine Beine nicht in Bewegung zu setzen. Die erste Überraschung war, dass die Band einen erstaunlichen Gast am Schlagzeug hatte: Mark Taylor. Wenn man seine Biografie auf der Website von Trio Records liest, stellt sich nur eine Frage: Mit welchen der Jazzgrößen seit 1970 hat er nicht gespielt?

Die andere Überraschung war der Leiter des Gigs, der Altsaxofonist Jake Goss. Er war Teil der herausragenden Gruppe von Studenten an der Londoner Royal Academy of Music, zu der auch Kit Downes und James Maddren gehörten. Beide sind auch auf Jakes Debütalbum Looking Up (33Jazz, 2009) zu hören. Doch während Downes und Maddren in den letzten zwölf Jahren immer wieder in der Szene zu sehen waren, inzwischen kreuz und quer durch Europa reisen und vom ECM-Label mit offenen Armen empfangen wurden, verlief der Lebensweg von Jake Goss anders. Er absolvierte ein Medizinstudium, bei dem er unter anderem in Londons überlasteten Krankenhäusern famulierte, und ist jetzt Arzt. Nun kombiniert er sein erstklassiges Altsaxofonspiel – ich hörte ein umwerfendes „Stars Fell on Alabama“ mit Anklängen an Cannonball Adderley – mit seinem Hauptjob als Allgemeinarzt im Londoner Stadtteil Hampstead.
Dr. Jake Goss ist allerdings nicht der erste Musiker, dem diese Kombination gelungen ist. Weit gefehlt. Zwei Mitglieder der alten Jazzgarde fallen mir ein, und es gibt sicher noch mehr Beispiele. Der amerikanische Startrompeter Eddie Henderson kombinierte seine Arbeit als Arzt mit Tourneeauftritten als Mitglied von Herbie Hancocks Mwandishi-Band. Er erinnert sich, dass er seine Prioritäten richtig gesetzt hat: „Musik war emotional meine Nummer eins, auch wenn ich Medizin auf einem sehr hohen Niveau praktizierte.“

Der aus Manchester stammende Tenorsaxofonist Art Themen, der kürzlich 80 Jahre alt wurde, verbrachte die meiste Zeit seines Berufslebens als orthopädischer Chirurg, spielte aber trotzdem weiter. Er erklärte mir einmal, was für ihn den Unterschied in der Teamarbeit ausmacht: „In der Medizin bist du als Chefarzt unangreifbar. In der Musik sind jedoch auf der Bühne alle gleichberechtigt. Aber davon fühle ich mich nie bedroht, teils, weil ich doch schon einige Jahre auf dem Buckel habe, aber vor allem, weil es mir so viel Spaß macht.“ Dr. Jake Goss hat sein Leben im Gleichgewicht und teilt diese Freude am Musikmachen. Jetzt, wo er den Jazz wieder aufgenommen hat, sagt er, dass er seine Rückkehr zur Musik irgendwann mit einem Album feiern will. Darauf kann man sich nur freuen.

Jazzjournalist Sebastian Scotney betreibt die Website londonjazznews.com