© Volker Becker-Battaglia

Markus Stockhausen

Eine neue Dimension

Wenn Jazz improvisierte Musik ist, dann ist Markus Stockhausens „Intuitive Musik“ so etwas wie Jazz hoch zwei. Sein Wild Life auf drei CDs bildet den vorläufigen Gipfelpunkt des „intuitiven“ Spielkonzepts.

Von Hans-Jürgen Schaal

Jazz ist improvisierte Musik, heißt es. Der Grad und Anteil an Improvisation fällt dabei jedoch sehr unterschiedlich aus. In einem detailliert ausgearbeiteten Bigband-Arrangement bleiben für die Improvisation manchmal nur noch ein paar harmonisch eng definierte Takte übrig. In freieren Improvisationsformen kann es dagegen vorkommen, dass weder Tempo noch Takt noch Tonalität vorgegeben sind. Regeln gab es aber auch im klassischen Free Jazz – zuweilen hat man Dur-Akkorde einfach für tabu erklärt. Also auch dort: Einschränkungen, Vorschriften.

Der Trompeter Markus Stockhausen hat für sich eine gesteigerte, eine nachdrückliche, eine emphatische Idee von Improvisation entwickelt. Er nennt sie „Intuitive Musik“ – eine Musik ohne Absprache und Vorgabe, rein auf der Basis künstlerischer Vertrautheit und menschlichen Vertrauens. In Kurzform beschreibt er die Idee so: „Kein Konzept, keine Erwartung, ein offener Geist, keine stilistischen Eingrenzungen, ein leerer Geist zu Beginn des Spiels, innere Beweglichkeit, zuhören können, Raum geben, ein Ego-loses Spiel.“ Seit 40 Jahren schon gibt Stockhausen Kostproben solcher Musik auf Tonträgern. Die Alben Aqua Sansa (1980), Cosi Lontano (1989), Karta (2000) und Electric Treasures (2008) sind einige Beispiele. „Irgendwie hat mich das nicht losgelassen, dieses immer neue Abenteuer der spontanen Einfälle, des Unvorhersehbaren“, sagt Stockhausen. „Immer wieder ergibt sich dabei eine Musik, die man sich so nicht ausdenken könnte, die man nicht planen kann. Erst im Zusammenspiel mit den anderen entsteht etwas, das mehr ist als das, was sich ein Einzelner erträumen kann. Ich finde diesen kollektiven schöpferischen Prozess einfach spannend.“

Die Ergebnisse solchen kollektiven Improvisierens sind unvorhersehbar und immer wieder anders – je nach den beteiligten Musikern, den Instrumenten, den Vibrationen, der Umgebung, der seelischen Gestimmtheit. Kaum jemals jedoch klang Stockhausens Intuitive Musik so atmosphärisch fesselnd, rhythmisch begeisternd und emotional mitreißend wie auf dem neuen Album. „Es sollte brodeln, undurchschaubar sein“, sagt Stockhausen. „Die Musik ist oft klanglich komplex, das war ein Wunsch von mir. Geheimnisvoll, überraschend. Bei ‚Wild Life‘ denkt man ja auch an Dschungel. Genau das wollte ich, eine dichte, manchmal undurchdringliche Klangwelt, wie ein Dschungel, wo es brodelt, abenteuerlich wird.“

Markus Stockhausen (trp), sein Halbbruder Simon Stockhausen (synth, sax), Florian Weber (p), dazu Jörg Brinkmann (vc), Michelangelo Flammia (e-b), Christian Thomé und Bodek Janke (dr) – das ist das Kollektiv, das Anfang 2018 in Bonn ins Studio ging. „Die Musik ist komplett live entstanden, ohne Nachbearbeitung“, versichert Stockhausen. „Wir haben ja verschiedene elektronische Mittel am Start gehabt: Simon mit seinen komplexen Samplern und Sounds, Florian mit seinem Mini-Keyboard neben dem Flügel, ich nutze einen Harmonizer und andere Effekte, Christian macht auch Live-Sampling und transformiert seine Schlagzeugklänge, Jörg hat elektronische Effekte am Cello. Bei sieben Musikern gibt es da schon ein reiches Angebot an Ideen und Energien.“ Nicht nur die Elektronik sorgt für Komplexität und Geheimnis – der Wild-Life-Dschungel lebt auch von seinen dichten Rhythmen. „Mir hat es Spaß gemacht, Christian und Bodek zusammenzubringen“, verrät Stockhausen. „Bodek hatte mir mal erzählt, dass er als junger Musiker Christian total bewundert hat, und nun die beiden nebeneinander zu erleben – wow, das war ein Feuerwerk an perkussiven Klängen.“

Meilenstein

Die feurige, rhythmische Freiheit von Wild Life lässt unwillkürlich an die frühen Fusion-Meilensteine eines anderen großen Trompeters denken, nämlich Miles Davis. „Ich hatte eine starke Beziehung zu Bitches Brew und In a Silent Way“, bestätigt Stockhausen, der diese Platten als Teenager kennenlernte. „Das Empfinden des Neuen war damals sehr stark, eine unerklärliche Faszination. Natürlich war ich schon vorher ein Fan von Miles Davis, aber hier vermischte sich der Jazz mit freien und unerklärlichen Klängen. Eine neue Dimension wurde zugänglich, andere Energien kamen ins Spiel, das stimulierte meine Fantasie.“ Bei Wild Life erinnern nicht nur die Freizügigkeit, die elektrisch-akustische Synthese und das rhythmische Insistieren an Bitches Brew – der Umfang von Stockhausens neuem Werk hat ebenfalls Meilenstein-Qualitäten. „Wir hatten zwei Tage im Studio geplant. Nun ist es gleich eine dreifache CD geworden, 170 Minuten Musik. So etwas habe ich noch nie veröffentlicht.“

Die Titel, die Stockhausen den zwölf Stücken nachträglich gab, verraten ein wenig von der fulminanten Energie der Musik – „Mangrove Dance“, „Walpurgisnacht“ oder „Vogelflug“. Dass diese kraftvollen, klar entwickelten Stücke ganz intuitiv entstanden sind, merkt man ihnen nicht an. Stockhausen bestätigt: „Wir waren selbst überrascht, wie diese Musik fließt, ihre ganz eigene Sprache findet. Die Musik hat ihre eigenen Gesetze, jeder spürt sie und bringt dazu seine musikalischen Erfahrungen ein. Wenn die Musik dann sehr dicht wird, sucht man den Ausgleich, wenn es schräg ist, sucht man als Antwort Harmonisches und so weiter. Eigentlich ist es ein Wunder, wie sich immer wieder alles fügt. Ich hatte vorher keinerlei konkrete Erwartungen, vertraute dem Prozess, dem kollektiven Potenzial. Das sind ja alles klasse Musiker mit viel Erfahrung. Nur einen Moment Stille habe ich mir erbeten vor jedem neuen Spiel.“

Anders als einst bei Bitches Brew wurden bei Wild Life nur ganz wenige Schnitte gemacht – lediglich die klangliche Balance wurde nachbereitet. „Für die Soundmischung ist Simon hauptverantwortlich“, sagt Stockhausen. „Er beherrscht das meisterlich. Da kann ich danebensitzen und mir alles wünschen. Zusammen sind wir ein gutes Team.“

Aktuelles Album:

Markus Stockhausen: Wild Life (OKeh / Sony)