Megaphon

Von Jan Kobrzinowski

Wenn man etwas unbedingt erreichen möchte, passiert genau das in den seltensten Fällen. Durch Loslassen ereignet sich nun genau das, was wir ungern „auf Krampf“ hätten bewerkstelligen wollen: Mehr als die Hälfte der Feature-Stories im vorliegenden neuen JAZZTHETIK-Heft handeln von – und hier mal ohne Sternchen: Künstlerinnen. Sind die Männer müde geworden und ziehen sich langsam aus dem kreativen Geschäft zurück? Sicher nicht, sie sollten sich nur ordentlich anstrengen, denn vielleicht müssen nämlich genau sie in Zukunft besser sein als ihre weiblichen Kolleginnen, um erste Preise zu bekommen, gute Kritiken einzufahren, auf Festivals gebucht zu werden. Liebe Leserinnen und Leser, machen Sie sich selbst ein Bild und lesen Sie unsere (wie immer sorgfältig subjektiv ausgewählten) Features – unsere Autor*innen wissen, was sie tun. Ach, übrigens: Auch die sonstigen bei uns in der Megaphon-Redaktion eingegangenen Meldungen kamen zu uns ohne Präferenzen oder besondere Absichten. Und auch da wird deutlich: In letzter Zeit räumten ziemlich viele Frauen bedeutende Preise ab, nicht nur beim Deutschen Jazzpreis in Bremen.

© Hans Kumpf

 

Die in Sapporo geborene Marimba-Spielerin und Vibrafonistin Taiko Saitō erhielt den Jazzpreis Berlin 2023. Von rbb und Senat mit 15.000 € dotiert, wird er ihr am 3.7. im Rahmen eines rbb-Studio-Konzerts ausgehändigt. Saitō ist Expertin sowohl für Klassik, Jazz als auch traditionelle japanische Musik (aktuelles Soloalbum: Tears of a Cloud, Trouble in the East Records) und arbeitete jüngst mit Satoko Fujii, dem Trickster Orchestra und Silke Eberhards Potsa Lotsa XL zusammen.

© Dimitri Staufer

 

Schon einige Auszeichnungen hatte die erst 26-jährige Pianistin und Komponistin Clara Vetter zuvor gesammelt: 2012 gewann sie den Landeswettbewerb „Jugend jazzt“, 2022 den BuJazzo-Kompositionswettbewerb Bigband. Nun kam der Jazz-Preis Baden-Württemberg 2023 hinzu, der ihr am 6.10. im Stuttgarter Theaterhaus übergeben wird.

© Sylvain Gripoix

 

Jedes Jahr vergibt North Sea Jazz den „Paul Acket Award – Artist Deserving Wider Recognition“ an Künstler*innen mit außergewöhnlichen musikalischen Talenten. In diesem Jahr gewinnt ihn die französische Pianistin Eve Risser für ihr „poetisches, perkussives und körperliches Spiel, sowohl solo als auch in großen Orchestern“ (Jury). Den Preis nimmt sie bei ihrem Auftritt auf dem North Sea Jazz Festival am 8.7. entgegen.

Die in Paris aufgewachsene franko-syrische Flötistin Naïssam Jalal erhielt den Hauptpreis in der Kategorie Jazz der International Songwriting Competition (ISC) für ihren Song „Buleria Sarkhat Al Ard“. Den 2. Platz belegte Caio Afiune (Brasilien) mit „Tequila Sunrise“, den 3. Bruce Gertz (USA) mit „Magdalene“.

www.songwritingcompetition.com

© Jacek Brun

 

Mit 19 Jahren trat Ella Burckhardt auf der JazzBaltica auf und erregte Aufsehen. Nun, zwei Jahre später, erhielt die Sängerin den mit 5.000 € dotierten Förderpreis der Investitionsbank Schleswig-Holstein, den IB.SH-JazzAward 2023.

Herzlichen Glückwunsch auch an die Sängerin Rhiannon Giddens für die ihr verliehene Ehrendoktorwürde (Honorary Doctor of Music Degree) der Princeton University. „Nur wenige zeitgenössische Künstler haben mehr getan, um übersehene Musiktraditionen der amerikanischen Vergangenheit mit der Musik von heute zu verbinden“, hieß es in der Begründung.

Aber auch ein paar Männer kamen zum Zuge. So ging der Darmstädter Musikpreis in diesem Jahr an den Bassisten und Komponisten Norbert Dömling. Er wird vergeben vom Darmstädter Förderkreis Kultur e.V. und der Sparkasse Darmstadt.

Der Schlagzeuger Dirk Achim Dhonau erhält den mit 10.000 € dotierten Hamburger Jazzpreis 2023 (Trägerschaft: ELBJAZZ GmbH) für besonders qualifizierte künstlerische Beiträge zum Jazz in Hamburg sowie für seinen Einsatz für die Belange des Jazz in der Stadt. Den Preis verdankt Dhonau nicht nur seinem „exzellenten Spiel und großen persönlichen Erfahrungsschatz“, sondern auch seiner Funktion als „wichtiges Bindeglied zwischen den Generationen“ (Jury).

Gradlinig und im besten Sinne einfach war die Aussage von Harry Belafontes Musik. Und dabei strahlte er etwas aus, was nicht jeder Künstler für sich beanspruchen kann: Würde, aus der eine gewisse Unantastbarkeit resultiert. Er stand wie kein anderer unerschrocken für das ein, was er für richtig hielt: den Kampf gegen Unterdrückung von Minderheiten, gegen Rassismus, für Bürgerrechte und Frieden. Musikalisch widmete sich Harry Belafonte, geboren als Harold George Bellanfanti Jr. in New York, fast sein ganzes Leben lang seinem Lieblingsthema The Long Road to Freedom – Songs für eine Anthologie schwarzer Musik: westindische und afrikanische Musik, frühe Spirituals, kreolische Chöre, Work Songs, Blues und Gospel. Selbst in seinen Hollywood-gerechtesten Darbietungen ließ sich Belafonte kaum vereinnahmen. Er lehnte schon früh die ihm nahegelegte totale Kommerzialisierung seiner Musik ab, und mithilfe seiner überzeugenden Art und seiner kraftvollen Performance begeisterte er ein breites Publikum, auch jüngere Generationen. Seine Leistungen für Politik, Gesellschaft und Kultur würden ihn zum perfekten Ehrenpräsidenten seines Landes machen, und international steht sein Name in einer Reihe unantastbarer Persönlichkeiten wie Nelson Mandela, Martin Luther King, Barack Obama. Am 25. April 2023 versagte Harry Belafontes Herz im Alter von 96 Jahren.

Der Saxofonist, Klarinettist, Komponist und bildende Künstler Renald Deppe starb im Alter von 67 Jahren in Wien. Die Jazzwelt kannte ihn auch als Mitbegründer des Wiener Jazzclubs Porgy & Bess.

Die Deutsche Jazzunion, eines der Sprachrohre der Jazzmusiker*innen in Deutschland, wird 50! Gefeiert wird vom 13.-15.7. in Marburg im Rahmen eines Jubiläums-Jazzforums und des Marburger Jazzsommers. 1973 als „Union Deutscher Jazzmusiker“ gegründet, nimmt die Berufs- und Fachinteressenvereinigung an drei Tagen die Jazzszene aus Hessen und ganz Deutschland in Geschichte, Gegenwart und Zukunft unter die Lupe.

www.deutsche-jazzunion.de

Jugend jazzt“. Bei der 19. Bundesbegegnung für den talentierten Jazznachwuchs Deutschlands in Hamburg erhielten neun Jugend-Jazzorchester wertvolle Konzert- und Workshop-Preise, u.a. die Big Band Berenbostel des Geschwister-Scholl-Gymnasiums Garbsen. Vier junge Solisten überzeugten in der Frontline der NDR Bigband im Rahmen der „Jugend jazzt Night“. Die nächste Bundesbegegnung (für Combos) findet vom 9.-12.5.2024 in Dortmund statt. Die Jazzorchester treffen sich wieder im Mai/Juni 2025.

www.jugend-jazzt.de

Klangkunst im öffentlichen Raum. Die Monheim Triennale sorgt in diesem Sommer (noch bis zum 2.7.) mit dem Klangkunst-Ereignis The Sound – Sonic Art in Public Spaces dafür, dass der Faden zwischen den Hauptereignissen im Dreijahresrhythmus in der Stadt am Rhein nicht abreißt.

www.monheim-triennale.de


Michiyo Yagi
Jazzfestival Saalfelden

 

Kein Sommer ohne Jazzfestival Saalfelden! Vom 17.-20.8. bringen innovative Sounds und experimentelle Klänge das Steinerne Meer der Berchtesgadener Alpen ins Schwingen. Mit 60 Konzerten in vier Tagen, mit 150 Künstler*innen in 13 Locations sieht sich das Festival zu Recht als „Hotspot für Jazz und improvisierte Musik“. Line-up siehe Festivalkalender.

www.jazzsaalfelden.com

Schon 70 Jahre gibt es den Jazz Club Minden. Gefeiert wird das am 15.7. unter freiem Himmel bei der 39. Jazz Summer Night auf dem Mindener Marktplatz, und zwar bei freiem Eintritt.

www.jazz-minden.de

Der Vibrafonist und Pianist Karl Berger ist am 9.4. im Alter von 88 Jahren in New York gestorben. Als einer der Vertreter der ersten Generation des westdeutschen Free Jazz ging er nach Paris, lernte Don Cherry kennen und zog 1966 mit dessen Band nach New York weiter. Dort spielte er mit Roswell Rudd, Sam Rivers, Pharoah Sanders, Lee Konitz, Gunther Schuller, John McLaughlin, John Surman u.v.a. und war Mitbegründer der New York Total Music Company sowie der Creative Music Foundation. Berger blickte mit vielfältigen intellektuellen, politischen und sozialen Interessen über den Tellerrand des Jazz hinaus und prägte dessen Verhältnis zur Musik der Welten. In seiner Wahlheimat USA ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Künstler und deren Hinterbliebene sozial abgesichert sind; so wurde eine Gofundme-Kampagne für Bergers Familie zur Deckung der Krankheits- und Bestattungskosten eingerichtet.

www.gofundme.com/f/karl-bergers-legacy-support-for-his-family

Der Grafiker Günther Kieser entwarf Plakate für das Deutsche Jazz Festival Frankfurt und die Konzertagentur Lippmann + Rau und arbeitete auch für das Label Blue Note. Seine vorwiegend an Zeichnung und Collage orientierten Arbeiten fanden auch in Programmheften und auf Plattencovern Verwendung. Kieser starb am 22.3. kurz vor seinem 93. Geburtstag.


© Georg Stirnweiß

 

Vom 24.-29.7. ist Jazz-Sommer im edlen Hotel Bayerischer Hof in der Landeshauptstadt München. Alle Termine des hochinteressanten und gut gemischten Programms findet man in unserem Terminteil unter Clubs.

www.bayerischerhof.de


Werden die Jazztage Dresden im Herbst 2023 die letzten sein? Oder kann es 2024 weitergehen? Das ist noch nicht sicher. Wir hoffen das Beste und drücken die Daumen. Schon ab 12.7. startet man im Elb-Florenz noch einmal voll durch, zunächst mit Sommerkonzerten mit Daniel Herskedal, den Klazz Brothers & Cuba Percussion, James Morrison, Joscho Stephan, mit Filmnächten am Elbufer und der Dresdner Schlössernacht (Termine siehe Clubs).

www.jazztage-dresden.de

Der Bassist und Komponist William James Edwards Lee III, bekannt als Bill Lee, ist am 24.5. im Alter von 94 Jahren gestorben. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehörte die Hymne „Mo‘ Better Blues“, die er für den gleichnamigen Film seines Sohnes Spike schrieb. Bill Lee gründete den New York Bass Violin Choir mit u.a. Milt Hinton, Richard Davis, Ron Carter und Sam Jones. Er begleitete u.a. Aretha Franklin, Odetta, Josh White, Judy Collins und Bob Dylan.

Ich hatte die blauen Flecken, und er tat mir leid.“ So fasste Anna Mae Bullock aka Tina Turner, ihr Dilemma einst zusammen. Ein brutaler Zwiespalt, von dem in der Beziehung misshandelte Frauen immer wieder berichten. Was immer Ike & Tina Turner machten, war und blieb Ikes Musik, auch wenn dieser wie später auch Phil Spector genau wusste, dass eigentlich Tina der Star war und nicht er. Die musikalischen Visionen der Sängerin waren indes schon immer die stärkeren. Ihr Talent und ihre Ausdruckskraft sollten sie später zum Jahrhundertphänomen machen. Aus der sexuell aufgeladenen Kunstfigur, der Dschungelkönigin Sheena/Tina, nachempfunden den Fantasien ihres Ehemannes, machte die Unterhaltungsindustrie später die „authentischere“ Kunstfigur mit der Löwenmähnen-Perücke. Tina nutzte das Bild, das ihr Peiniger erschaffen hatte, zu ihrer Befreiung, wurde zu einer der ersten Frauen im Musikgeschäft, die als Opfer sexualisierter Gewalt in der Ehe öffentlich auspackten. 1983 gelang es ihr mit fachkundiger Hilfe aus Europa, sich musikalisch komplett neu zu erfinden. Mit Private Dancer begann eine beispiellose Solokarriere, mehr noch: Tina hauchte mit ihrer großen Stimme, Wärme und ihrem Soul dem ins Abseitig-Gefühllose abdriftenden Pop der 80er neues Leben ein; sie schuf neue Rockmusik auf eigenen Pfaden, gleichermaßen emanzipiert und inspiriert von ihrer Herkunft. Tina Turner starb am 24.5. im Alter von 83 Jahren.

Im gleichen Alter starb am 5.6. Astrud Gilberto, die Ikone der Bossa Nova. Wer in den 60ern als Jazzmusiker Geld verdienen wollte, sprang auf den Bossa-Nova-Zug auf wie Stan Getz, Stanley Turrentine, Gil Evans u.a., die damit wie nebenbei ein faszinierendes Genre mitbegründeten. Eine der Garantinnen für diesen Erfolg war Astrud Gilberto, die Sängerin mit der wohl dünnsten Stimme des Jahrhunderts. Sobald sie allerdings nicht mehr auf Portugiesisch, sondern auf Englisch sang, gingen Astruds Klangideal, Timbre und Flair in großer Seichtheit baden. Sie repräsentierte ein Klangphänomen, das wirklich nur zu seiner Zeit, also in den 1960ern, wirklich funktionierte. In fast allem, was danach kam, erlosch dieser Reiz, und manch verbliebener Hauch Brasilien wurde gänzlich in den Dienst unsäglicher englischsprachiger Schnulzen gestellt (siehe das Album I Haven’t Got Anything Better to Do von 1970). Randnotiz: Ausgerechnet James Last gelangen ein paar beachtliche Fusionen von Astruds speziellem Flair und mit 80er-Aufwand produzierter Unterhaltungsmusik.

Nicht alles läuft schlecht in Sachen musikalischer Bildung und Anerkennung der Kraft der Musik für Individuum und Gesellschaft. Seit dem Regierungswechsel tut sich auch staatlicherseits einiges: Das Deutsche Musikinformationszentrum des Musikrates beschäftigt sich mit der musikalischen Arbeit in deutschen Haftanstalten. Musik als effektivem Mittel zur Resozialisierung wird eine transformative Kraft zugeschrieben, also wird es fortan mehr Fördermaßnahmen für Kreativität geben, um Kommunikation und Gemeinschaftsgefühl in den JVAs zu schaffen. Und Musik gilt schon lange als Königsweg der Kommunikation mit von Demenz betroffenen Menschen. Sie lindert Symptome und wirkt präventiv. Musikalisch-künstlerische, musiktherapeutische und -geragogische Angebote für Demenzerkrankte sollen künftig stärker gefördert werden. Außerdem unterstützt der Musikrat mehr denn je den Jazz und die zeitgenössische Musik. Die Bewerbungsphase für die neue Förderrunde des Förderprogramms InSzene für junge Formationen läuft. Und nicht zuletzt gibt man größere Summen für Jazzpreise aus.

www.miz.org


Filmpräsentation Jazzfieber – The Story of German Jazz: 25.8. auf den HEIMAT Europa Filmfestspielen in Simmern/Hunsrück. Live dabei: Mareike Wiening, Hannah Weiss, Jakob Bänsch u.a. sowie Peter Baumeister, Klaus Doldinger (online). Näheres zum Film im nächsten Heft. Filmstart im September. 

www.jazz2germany.de