Megaphon

Von Guido Diesing

Es war jahrzehntelang ein medialer Brauch: der Blick in die USA als Seismograph anstehender Veränderungen und Trends in Gesellschaft, Politik, Kultur und Medien, gefolgt von der Prophezeiung, die dortigen Tendenzen könnten mit einigen Jahren Verzögerung auch Westeuropa heimsuchen. Mit der ersten Amtszeit von Donald Trump geriet diese Sichtweise ins Wanken. Zu abwegig erschien der Gedanke, eine Politik, die auf Lügen, Respektlosigkeit und kalkulierten Gesetzesbrüchen basiert, und ein Verhalten, das in seiner Mischung aus Drohungen und unverhohlenem Egoismus an Schulhofschläger erinnert, könne diesseits des Atlantiks erfolgreich sein.

Die Zeiten haben sich geändert. Auch in Deutschland wird mit Neid, Vorurteilen und Missgunst Politik gemacht, ist eine wachsende Zahl von Menschen nicht daran interessiert, dass es ihnen selbst besser geht, wenn nur dafür gesorgt ist, dass es anderen noch schlechter geht. Das Säen von Zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen fällt auf fruchtbaren Boden, wenn es die Bequemlichkeit rechtfertigt, die Konsequenzen des eigenen Lebensstils nicht überdenken zu müssen. Was den Umgang gerade konservativer Politiker mit Demokratiefeinden angeht, weicht das ungläubig staunende „Haben die denn wirklich gar nichts daraus gelernt, was in den USA schiefgelaufen ist?“ langsam, aber sicher dem Eindruck: „Oh, sie haben daraus gelernt – und sich Anregungen geholt, wie man es macht.“

In den USA haben auch Radio- und Fernsehsender, Verlage und Kultureinrichtungen, die nicht ins rechte Weltbild passen, bereits mit existenzbedrohenden Angriffen zu kämpfen. Welche Folgen das hat, haben US-amerikanische Kulturschaffende und Journalisten JAZZTHETIK geschildert (Seite 8). Wenn der renommierte Autor Nate Chinen betont, er freue sich auf das Jazzfest Berlin, weil die Atmosphäre dort eine willkommene Erholung von der Situation in seiner Heimat sein werde, kann man sich als hiesiger Jazzfan freuen. Keinesfalls sollte man sich aber darauf verlassen, dass das so bleibt.

© Niclas Weber

Mehr schlechte Nachrichten aus den USA: In Robert Wilson starb Ende Juli ein Gigant des modernen Theaters, der seit den 1970er Jahren weltweit für bahnbrechende Inszenierungen gefeiert wurde, in denen er Einflüsse aus Bildender Kunst, Malerei, Mode und Architektur verarbeitete. Eine große Rolle spielte in vielen seiner Werke die Zusammenarbeit mit Musikern wie Philip Glass, Lou Reed und Laurie Anderson bis hin zu Herbert Grönemeyer. Unvergessen seine Kooperationen mit Tom Waits am Hamburger Thalia-Theater (The Black Rider, Alice). Robert Wilson wurde 83 Jahre alt.

Eine „Big Band für Singende“ – dieser Vision ist Sarah Buechi ein gutes Stück nähergekommen. Die Schweizer Sängerin hat den mit 20.000 CHF dotierten Moods-Aïda Alliman Preis gewonnen, der Musiker*innen aus der Schweiz und Liechtenstein helfen soll, über einen längeren Zeitraum frei zu arbeiten. Überzeugt hat die Jury Buechis „szeneübergreifende Denkweise und der Einbezug der Realität jüngerer, angehender Sänger*innen in ihre Zukunftsvision“. Bedauerlich nur: Den vom Zürcher Jazzverein Moods und der Aïda Alliman Stiftung seit 2016 vergebenen Preis gab es in diesem Jahr zum letzten Mal, da die Stiftung aufgelöst wird.

Bisher an dieser Stelle noch nie erwähnt wurde die Stiftung Preußische Seehandlung. Dies ändert sich nun, weil der von ihr vergebene Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung 2025 an Cymin Samawatie und Ketan Bhatti geht. Die Jury lobt, dass die beiden mit ihrem Trickster Orchestra versuchen, „durch Zusammenführung von Poesie und Musik auf brennende politische und soziale Themen aufmerksam zu machen“. Anlässlich der Verleihung des mit 10.000 dotierten Preises tritt das Orchester am 18.11. in der Berlinischen Galerie in, nun ja, Berlin auf.

© Hans Kumpf

Er war Teil der legendären südafrikanischen Band The Blue Notes, die 1964 vor der Apartheidpolitik in ihrer Heimat floh und bleibenden Eindruck vor allem im englischen Jazz hinterließ. Schlagzeuger Louis Tebugo Moholo gehörte Bands wie Assagai und der Brotherhood of Breath an und trat mit allem auf, was im europäischen Free Jazz Rang und Namen hatte. 2005 kehrte er nach Kapstadt zurück – dort starb er am 13. Juni als letztes verbliebenes Mitglied der Blue Notes im Alter von 85 Jahren.

© Hreinn Gudlauggson

Ein weiterer bedeutender Schlagzeuger starb nur zwei Tage später: Der Schwede Sven-Åke Johansson spielte 1968 auf Peter Brötzmanns epochalem Album Machine Gun, begründete sein eigenes Genre namens „Moderne Nordeuropäische Dorfmusik“ und arbeitete ausgiebig mit Alexander von Schlippenbach zusammen. Sein weit gefasstes Musikverständnis zeigte sich etwa in seinem Konzert für zwölf Traktoren von 1996. Als Experimentator, Lyriker, bildender Künstler und Hörspielautor war ihm die Bezeichnung als Jazzmusiker viel zu eng. Er starb nach langer Krankheit mit 81 Jahren in einem Berliner Hospiz.

Als ursprünglicher Jazztrompeter zwei Millionen Exemplare eines Albums zu verkaufen, einen Grammy in der Pop-Kategorie zu gewinnen und obendrein in einer Magnum-Episode mitzuspielen, gelingt nicht vielen, Chuck Mangione schon. Mit seinem Instrumentalhit „Feels So Good“ wurde er 1978 zum festen Bestandteil der Popkultur. Über seine kommerziellen Erfolge geriet etwas aus dem Blick, dass er 1966 Mitglied von Art Blakey‘s Jazz Messengers war (mit Keith Jarrett am Klavier). 2015 zog er sich aus der Musikwelt zurück, jetzt ist Chuck Mangione im Alter von 84 Jahren gestorben.

© Hans Kumpf

Er wurde in Oxford geboren, wuchs in Bochum auf, lebte zeitweise in Mexiko und studierte in Amsterdam. Inzwischen wohnt der Saxofonist und Klarinettist Tobias Delius in Berlin, wo er jetzt den mit 15.000 dotierten Berliner Jazzpreis entgegennehmen konnte. Die Jury lobte seinen „erdig-präsenten Ton“ sowie die „stilistische Offenheit, die er mit Witz und Leichtigkeit zelebriert“.

Der Lübecker Jazzpreis geht in diesem Jahr an die Hamburger Saxofonistin und Komponistin Hedwig Janko. Sie wird am 13.9. beim TraveJazzFestival in Lübeck mit ihrer Band Dialect das Preisträgerkonzert spielen. Unter den Stiftern des Preises ist ein Vertreter aus der Rubrik „Namen, die man lange nicht gehört hat“: Björn Engholm.

Wir bleiben im Norden: Ostfriesland und Tokio, Kluntje und Kimono – das klingt nach einer schrägen Verbindung, bietet aber den Stoff für eine interessante Fotoausstellung mit umfangreichem Rahmenprogramm im Kunsthaus Norden. Vom 28.9.-2.11. führen unter dem Titel Tokyo Jazz Joints Fotos von Philip Arneill in die Welt der Jazz-Kissa ein – Tokios Cafés und Bars, in denen Liebhaber Jazz auf Vinyl genießen.

www.jazznorden.de

Mit einem stilistisch breiten Programm richtet sich das Trans4JAZZ-Festival in Ravensburg und Umgebung vom 5.-9.11. an alle, „die Jazz nicht als Genre, sondern als Haltung verstehen“. Zu den Highlights gehören die Brass-HipHop-Synthese von Moop Mama und der Rapperin Älice, das Vincent Peirani Living Being Quintet und die Rückkehr der samischen Sängerin Mari Boine, die schon vor zehn Jahren auf dem Festival gefeiert wurde. Lobenswert: Für alle ab Jahrgang 1999 gibt es Tickets für nur zehn Euro.

www.jazztime-ravensburg.de

© Pedro Gil Rosas

© Pedro Gil Rosas

Das älteste deutsche Jazzfestival wird wieder ein Jahr älter. Vom 22.-26.10. sind in Frankfurt u.a. das Trio Besson/Sternal/Burgwinkel, Maria Grand, Joachim Kühns French Trio und gleich zweimal die hr-Bigband zu erleben. Eine Neuerung bietet der Samstag, der unter dem Motto „Jazz Moves“ ausdrücklich Platz für Funk, R&B und HipHop lässt.

www.hr2.de/veranstaltungen/jazzfestival/index.html

Aber wie veranstaltet man eigentlich ein Festival? Antworten gibt ab Oktober ein Weiterbildungsangebot der privaten IST-Hochschule für Management in Düsseldorf. Wer das Hochschulzertifikat „Festivalmanagement“ erwerben will, erfährt im zwölfmonatigen Online-Studium alles über Konzeption, Finanzierung und Projektsteuerung. Die Weiterbildung richtet sich an Menschen aus der Event-, Kultur- und Kreativwirtschaft sowie an Quereinsteiger*innen mit ersten Branchenerfahrungen. Zugangsvoraussetzung ist ein Bachelor oder ein vergleichbarer Abschluss.

Frankreichs Jazzszene hat einen bedeutenden Festivalleiter und Netzwerker verloren. Jacques Panisset war Gründer und Leiter des Grenoble Jazz Festivals, das den im Kollektiv AGEM organisierten Musikern der Stadt eine Plattform gab. Er setzte sich in der Association Jazzé Croisé erfolgreich dafür ein, dass die wichtigsten französischen Jazzfestivals sich nicht mehr als Konkurrenten, sondern als Kooperationspartner verstanden. Auch im Europe Jazz Network, wo er liebe- und respektvoll „Le Chevalier“ genannt wurde, hatte seine Stimme Gewicht. Jacques Panisset starb mit 76 Jahren.

Auf einen neuen Termin umgezogen ist das JazzChurFestival, dessen sechste Ausgabe nicht im Sommer, sondern in der ersten Septemberwoche (3.-7.9.) stattfindet. Nicht verändert hat sich die Ausrichtung: Vor allem europäischer Jazz, gespielt von aufstrebenden Musiker*innen und dem einen oder anderen bekannten Namen. Mit dabei sind u.a. Lea Maria Fries, das Olga Reznichenko Trio und A Novel of Anomaly.

www.jazzchur.ch/jazzchurfestival-2025

Ebenfalls Anfang September (vom 5.-7.) gibt es in Greven eine gute Ladung guter Musik. Beim Emsjazz-Festival locken zehn Auftritte ins historische Ballenlager, darunter heimische Bands wie Bernsteinzimmer, Norlys und Jin Jim. Krönender Abschluss der drei Abende sind die ACTs Vincent Peirani, Nguyên Lê und Emma Rawicz.

www.emsjazz.de

Der südafrikanische Trompeter Feya Faku studierte bei Darius Brubeck, spielte im Quintett von Winston Mankunku Ngozi und nahm Alben mit Abdullah Ibrahim auf. In seinem Spiel trafen sich Jazz, die Tradition der isiXhosa und Kirchenmusik. Nicht nur als Mitglied von Dominic Eglis Plurism hatte er eine enge Verbindung zur Schweizer Jazzszene. So war er häufig im Bird’s Eye Jazzclub in Basel zu hören. Unmittelbar vor einer dort geplanten einwöchigen Residency starb Feya Faku im Juni im Alter von 63 Jahren.

Wie es um Deutschlands Nachwuchs- und Amateur-Big-Bands bestellt ist, zeigt alle vier Jahre der Deutsche Orchesterwettbewerb, bei dem neben klassischen Ensembles auch der Jazz seinen Platz hat. In diesem Jahr trafen sich in Mainz, Wiesbaden und Ingelheim über 4.000 Musiker*innen. Mit dem Sonderpreis der Deutschen Jazzunion, einem eintägigen Improvisationsworkshop, wurde die Big Band des Landesmusikgymnasiums Rheinland-Pfalz in Montabaur ausgezeichnet.

www.deutscher-orchesterwettbewerb.de

Hal Galper spielte schon früh in seiner Karriere mit Bandleadern wie Chet Baker, Stan Getz und Randy Brecker, erst mit über 30 nahm der Pianist erste Alben unter eigenem Namen auf, bewährte sich aber auch weiterhin als Sideman, allein zehn Jahre im Phil Woods Quintet. Zuletzt bevorzugte er das klassische Klaviertrio und experimentierte mit einem Rubato-Konzept und einem flexiblen Umgang mit Rhythmik, Harmonik und Melodik. Außerdem sammelte er Meriten als Lehrer und Autor von Lehrbüchern und teilte sein Wissen und seine Erfahrungen in Social-Media-Posts. Hal Galper starb am 18. Juli mit 87 Jahren.

Grammy-Nominierungen in der Jazz-, Klassik- und Pop-Sparte, Auftritte am Broadway, Erfolge als Schauspielerin – Cleo Laine war vielseitig. Die britische Sängerin trat mit Ray Charles und Frank Sinatra auf, interpretierte Arnold Schönberg und Robert Schumann und machte sich einen Namen als Scat-Sängerin. Mit ihrem Ehemann, dem Saxofonisten John Dankworth, stand sie noch mit über 80 Jahren auf der Bühne. Im Juli starb Cleo Laine im Alter von 97 Jahren.

Noch ein Alleskönner: Mit vier Grammys, einem Ehren-Oscar und zwei Golden Globes wurde Lalo Schifrin ausgezeichnet. Das unvergessliche Mission-Impossible-Thema war nur eine seiner über 100 Filmmusiken. Der gebürtige Argentinier arbeitete im Grenzbereich zwischen Jazz und Klassik, spielte mit Dizzy Gillespie, Quincy Jones und Astor Piazzolla und leitete Sinfonieorchester. Lalo Schifrin starb im Juni mit 93 Jahren.

Sogar neun Grammys hatte Eddie Palmieri im Regal. Der in New York geborene Pianist und Bandleader mit puerto-ricanischen Wurzeln zählte zu den einflussreichsten Musikern in Latin Jazz und Salsa und nahm über 40 Alben auf. Er starb am 6. August mit 88 Jahren.

Immer einen Blick wert sind die Veröffentlichungen des Vereins Preis der deutschen Schallplattenkritik (PdSK). Wer Anregungen über Herausragendes und Ausgefallenes auf dem LP- und CD-Markt sucht, findet dort zu allen gängigen Genres fachkundige Infos. Wer zuletzt einzelne Empfehlungen verpasst hat, kann nun in einem PDF unter dem Titel Ausgezeichnet – Die Preise und Bestenlisten 2025 einen gebündelten Rückblick auf das vergangene Jahr inklusive der Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen des PdSK nachlesen.

www.schallplattenkritik.de/media/pdsk-ausgezeichnet-2025.pdf

Der SWR Jazzpreis wird als ältester Jazzpreis Deutschlands vom Land Rheinland-Pfalz und dem Südwestrundfunk vergeben. 2025 geht er mit dem Preisgeld von 15.000 an den Vibrafonisten Christopher Dell, der seit vielen Jahren ein wichtiger Impulsgeber für den Jazz in Deutschland“ ist, wie die Jury lobt. Die Preisvergabe findet am 29.10. beim Festival Enjoy Jazz in Ludwigshafen statt, wo Dell mit seinen Trios DRA (Dell/Ramond/Astor) und DLW (Dell/Lillinger/Westergaard) auftreten wird. Für die potenziellen weiteren Trios DFB und DHL muss er noch die passenden Mitstreiter finden.

Stucky con Carne feat. FM Einheit
Leipziger Jazztage
30.9.-9.10. 2021 Leipzig, div. Spielstätten

Was passiert sonst noch bei Enjoy Jazz? Eine Menge! Zwischen dem Eröffnungskonzert mit Ibrahim Maalouf und dem Abschluss mit Anouar Brahem brummt es vom 2.10.-8.11. in der Metropolregion Rhein-Neckar. Unter dem Festivalmotto Knowing teilen legendäre Größen wie Charles Lloyd und Abdullah Ibrahim ihr musikalisches Wissen. Erstmals treten Shabaka und Nduduzo Makhathini zusammen auf, des Weiteren James Brandon Lewis, Michael Wollny, Brandee Younger u.v.m. Und nicht nur Christopher Dell wird geehrt: Archie Shepp erhält den mit 10.000 € dotierten Christian Broecking Enjoy Jazz Award.

enjoyjazz.de

Auch in Halle (Saale) ist Christopher Dell Teil des Line-ups, wenn vom 18.-21.9. ein neues Festival seine ersten Schritte macht. Für sein A-Minor-Festival für Jazz und improvisierte Musik hat das Jazzkollektiv Halle ein ambitioniertes Programm auf die Beine gestellt, in dem Musiker*innen wie Antonio Borghini, Silvia Tarozzi, Pierre Borel und Tobias Delius (noch ein Preisträger, siehe oben) gleich in mehreren Konstellationen zu erleben sind. Filmvorführungen und Workshops runden das Ganze ab.

www.jazzkollektiv-halle.de

Egoismus und Hass standen am Anfang dieses Megaphons, das Gegenteil steht an seinem Ende. Der Jazzclub Hürth engagiert sich seit Langem für soziale Zwecke und unterstützt etwa Projekte in der Hürther Partnerstadt Kabarnet in Kenia. Bei einem Konzert sammelte der Verein Spenden, mit denen jetzt einer Selbsthilfegruppe in Kabarnet der Kauf einer Kuh ermöglicht wird, die einer bedürftigen Familie helfen wird, ihre Ernährung zu sichern und langfristig unabhängiger zu werden. Ein gutes Beispiel dafür, wie man auch im kleinen Rahmen ganz konkret Sinnvolles tun kann. Nachahmenswert!