Moers-Festival
Im dunklen Zeittunnel
Die Vorbereitungen für das 50. Moers-Festival laufen und sind selbst Gegenstand von Improvisation.
Von Stefan Pieper
Das Moers Festival 2021 findet vom 21. bis 25. Mai statt. „Wir planen optimistisch und hoffnungsvoll, dass wir etwas Publikum in die Halle lassen können. Aber wir werden auch den Ausflug in die virtuelle Realität weiterentwickeln“, fasst Tim Isfort den aktuellen Stand vor dem 50. Moers-Festival zusammen. Noch mehr in die Zukunft gedacht wurde bei der Programm-Pressekonferenz: Darin wagten Archäologen aus dem Jahr 2040 einen Rückblick auf die Zustände im Jahr 2021. Die Teilnehmenden wurden dafür in einen dystopischen Zeittunnel abgeseilt.
Eine ehemalige, heute nur noch über einen Kanaldeckel zugängliche Unterführung unter einer Moerser Hauptstraße ist ein Lost Place, an dem es um mehr geht als einfach nur darum, die Programmpunkte für ein Festival zu verkünden. Wie wird irgendwann in den Geschichtsbüchern über das Heute, über diese so merkwürdig beginnenden 2020er Jahre berichtet? Die Reflexion über Zeit soll das Narrativ für die Jubiläums-Festivalausgabe sein.
Beklemmend wirkt, dass manche Requisiten im verlassenen Tunnel schon wie aus einem anderen, vergangenen Leben anmuten: Das aktuelle Festivalplakat zeigt ein sich innig umarmendes Paar. Die physisch greifbare Gegenwart an diesem Vormittag in der Unterwelt könnte hingegen dem (ersten) Blade Runner-Film entstammen: Ein merkwürdig kostümierter „Schamane“ unterzieht sämtliche vorschriftsmäßig FFP 2-maskierte Besucher einer merkwürdigen Reinigungszeremonie, eine Performance-Tänzerin im Fetisch-Anzug untermalt die Ansprachen des Festival-Teams. Damals, als Menschen sich noch draußen und öffentlich umarmten und der R4 auf der Wiese parken durfte, war vieles anders.
Mitten in der heißen Planungs- und Organisationsphase nahm sich der Festivalleiter Zeit für ein langes, ruhiges Gespräch. Inszenierung durch ästhetische Botschaften bestimmt unter Tim Isforts künstlerischer Leitung die jüngste Generation des Moers-Festivals. Dass solche Theatralik so manche Jazzpolizisten verärgert – geschenkt! „Menschen haben es nicht gern, wenn man Angestammtes verändert“, zeigt sich Isfort entspannt.
50 Jahre Moers-Festival werfen Fragen auf: Was ist die Zukunft von Festivals? Was war der Antrieb? Denen soll mit einer „Mischung aus Wahrheit und fantasievoller Weitererzählung beigekommen werden. Es gibt nicht die eine Erzählung und die eine Wahrheit, und auch nicht nur die von Burkhard Hennen, von Reiner Michalke oder von Peter Brötzmann“, sondern von zahllosen Menschen. Weltweit. Längst ist die Aufarbeitung von fünf Jahrzehnten Festivalhistorie zum Fulltime-Projekt geworden.
Isforts tatkräftig praktizierter hoher Respekt vor sämtlichen Aspekten der Festivalhistorie möchte den Gründergeist von Moers wachhalten. „Wir wollen die Welt nicht mehr so, wie sie war“, lautete damals das Credo, unter dem Peter Brötzmanns Klänge zuweilen zum politischen, aber immer zum ästhetischen Manifest wurden. Heute und künftig lautet das Anliegen, solche Erweckungserlebnisse an neue Generationen weiterzugeben, auch wenn dafür heute vor allem Inszenierungen als Motor fungieren und man dafür kämpfen muss, dass Gegenkultur von früher nicht ausschließlich zum Lifestyle verkommt. Nun geht es darum, für die Kultur zu kämpfen, die gerade von der Pandemie, mehr noch: vom politisch-administrativen (Nicht-)Umgang mit ihr, bedroht ist.
Isfort vermeidet das böse Wort, das mit C anfängt, und kreiert stattdessen das Bild vom „Seeungeheuer“, einem verspielten Anti-Narrativ gegen das offizielle Angst-Framing in den Nachrichtenkanälen. Genug Respekt vor der Situation ist im Spiel und war es auch im letzten Jahr, als Moers als symbolisches Schiff auf den Ozean hinausfuhr, während fast alle anderen im Hafen blieben. Denn es liegt an der Kultur, sich auch unter feindlichen Bedingungen öffentlich einzumischen. Aber: „Es ist im zweiten Jahr nicht einfacher geworden“, bewertet Tim Isfort die aktuelle Situation. Genauso hatte er im vergangenen Jahr die Zustände fürs Jahr 2021 eingeschätzt, als viele andere naiv annahmen, dass schon bald alles vorbei sei. Maximale Vorkehrungen für ein Festival in der Pandemie sind getroffen, sogar ein Schnelltest-Zentrum soll zu Pfingsten aufgebaut werden.
Was, wie und mit wem zu Pfingsten passieren wird, da müssen wir uns überraschen lassen. So manches in der Programmplanung kann sich wohl noch kurzfristig ändern und bleibt Gegenstand von Improvisation. (Fast) alle bisherigen Improviser-in-Residence werden den sozialen Kosmos in Moers bereichern. Öffentlichkeitswirksame „Unterwanderungen“ finden statt, auch mitten in der Stadt und im grünen Park jenseits der zwei (!) neuen Festivalbühnen. Auf der Agenda stehen zahllose Namen aus ebenso diversen musikalischen Kontexten. Die beiden umtriebigen Amerikaner Kevin Shea und Matt Mottel mischen bereits seit Februar als Improviser-in-Residence die Residenzstadt auf. Und die Welt wird, wo immer es geht, in Moers zu Gast sein: „Man macht sich keine Vorstellung, wie wir jedes Jahr dafür kämpfen müssen, etwa afrikanische Musiker aus dem Kongo oder aus Äthiopien zu holen, mit allen Visa- und Einreisegenehmigungen.“ Aber genau diese kulturelle Völkerverständigung führt schon seit einem halben Jahrhundert dazu, dass die Welt auf eine kleine Provinzstadt am Niederrhein blickt. Tim Isfort: „Burkhard Hennen hat der Stadt Moers mit der Gründung dieses Festivals ein riesiges Geschenk für alle Ewigkeiten gemacht.“
Website:
www.moers-festival.de