In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!
Dave Liebman / Richie Beirach
Empathy
Jazzline / Broken Silence
5 Sterne
Kreativer Austausch ist einer der Grundbausteine in der DNA des Jazz, musikalische Partnerschaften sind dementsprechend gang und gäbe. Allerdings – und das ist dann doch einigermaßen rar – währt die Zusammenarbeit von Dave Liebman und Richie Beirach bereits mehr als ein halbes Jahrhundert. Sicher, jeder von ihnen ist vielfach auch in andere Projekte involviert, doch auf diese Duo-Konstellation sind sie immer wieder zurückgekommen. Der Saxofonist Liebman (Jahrgang 1946) und der Pianist Beirach (Jahrgang 1947) haben einiges gemeinsam: Als weiße Mittelklassekids in Brooklyn aufgewachsen, entdeckten sie frühzeitig ihre Begeisterung für den Jazz. Seit sie sich 1967 auf den Jam Sessions am Queens College zum ersten Mal über den Weg liefen, pflegen Liebman und Beirach ihre künstlerische Freundschaft. 1974 erschien mit Lookout Farm ein Meilenstein ihrer Kollaboration auf ECM, als Quest spielten sie in unterschiedlicher Besetzung eine ganze Reihe an Quartett-Alben ein. Vor zwei Jahren feierten sie auf Eternal Voices das 50-jährige Bestehen ihrer Zusammenarbeit mit Interpretationen klassischer Werke. Für Empathy haben sie einen komplett gegenteiligen Ansatz gewählt: In verschiedenen Konstellationen loten sie das Potenzial der freien Improvisation aus – auf gleich fünf CDs. Im Duo, im Trio, solo, im Overdub-Verfahren stellten sich Liebman und Beirach im Verlauf der vergangenen fünf Jahre der Aufnahmesituation unter der Prämisse, alles in Echtzeit entstehen zu lassen, ohne Absprachen, ohne Sheets, ohne jegliche Art von Vorbereitung. Im zuerst entstandenen Duo-Album Empathy ist vor allem das immense Vertrauen zu hören, das die beiden Virtuosen verbindet, auf Lifelines kommt der impulsive Drive von Jack DeJohnette ins Spiel. Die Soloalben offenbaren die Unterschiede: Liebman begibt sich apollinisch gestimmt auf die Suche nach Aural Landscapes, Beirach ins finstere Heart of Darkness. Überraschend dark auch Aftermath: Liebman und Beirach über einen Zuspieler modifizierter Tympani- und Gongklänge, dazu Overdubs auf dem Buchla-Synthesizer von Florian Van Volxem. Kolossale Free-Jazz-Verteidigung.
Harry Schmidt
Pat Metheny
Side Eye V1.IV NYC
BMG / Warner
4,5 Sterne
Pat Metheny hört sich über weite Strecken dieses neuen Albums an wie zu Beginn seiner Karriere: Er schwebt, groovt, lickt und jubelt sich durch seine Chorusse, mit einer so extrem positiven Grundstimmung, als hätte es HIV, Trump, Covid und Klimakatastrophe nie gegeben. Und ehrlich gesagt freue ich mich beim Hören wie ein Kind über die Leichtigkeit des Openers. „It Starts When We Disappear“ heißt der 14-minütige Track, der auch jedes Metheny-Album der späten 70er Jahre bereichert hätte. Ich bin mit Pat Methenys Veröffentlichungen nach Day Trip von 2008 überhaupt nicht mehr warm geworden, aber jetzt hat er mich mal wieder gepackt. Gemeinsam mit James Francies (kb) und Marcus Gilmore (dr) beweist Metheny in diesen Konzertaufnahmen vom September 2019 auch mal wieder, dass er straight ahead swingen kann. Tatsächlich hört man hier oft ein echtes Orgel-Trio mit großartigen Basslines, die alle der linken Hand von James Francies entstammen. Die Hälfte der interpretierten Kompositionen sind neu, zu hören sind aber auch Klassiker wie „Bright Size Life“ und das für eine Kooperation mit Michael Brecker geschriebene „Timeline“. Überraschend rockig agiert die Band in „Lodger“, mit verzerrtem E-Gitarrenton im großen Hallraum und einem Laid-Back-Groove der beste Pink-Floyd-Momente imitiert – der Track ist Methenys Freund und Lieblingsgitarristen Adam Rogers gewidmet. Etwas unglücklich sind die sehr stereotyp eingemischten Publikumsreaktionen geraten, die musikalische Lebendigkeit dieses neuen, alten Metheny-Albums macht aber alles wett.
Lothar Trampert
Martina Gebhardt Septett
In Spring
Laika / Rough Trade
5 Sterne
Frühling! Eigentlich herrscht im Frühling in der Regel eine positive Grundstimmung, was in den vergangenen beiden Jahren jedoch gerade in der Musikszene immer relativ war. Viel Grund für Optimismus gab es in diesen Zeiten nicht. Und doch hat sich die Berliner Jazzsängerin gemeinsam mit ihrem Septett genau mit dem Gefühl von Freude und neuem Leben auf der neuen Platte auseinandergesetzt. In Spring heißt das Doppelalbum, das Frühlingsstandards beispielsweise „You Must Believe in Spring“ von Michel Legrand oder „One Morning in May“ von Hoagy Carmichael beinhaltet, die das Martina Gebhardt Septett teils genial arrangiert hat, außerdem Eigenkompositionen der Septett-Musiker. Die Arrangements lassen teils schmunzeln, so beispielsweise „One Morning in May“, das durch Vogelgezwitscher und weitere Naturgeräusche den Hörer in den Dschungel schickt. Doch auch Balladen wie „Waiting for the Dawn“ erklingen auf „In Spring“. Während die erste Platte des Doppelalbums sehr swingend daherkommt, beweist das Martina Gebhardt Septett auf der zweiten Hälfte noch etwas mehr Experimentierfreude: Kommt „Paradise“ als Tango daher, so überzeugen Gebhardt und Saxofonist Mike Segal, von dem auch viele Arrangements stammen, mit einem amüsanten Gesangsduett – und „Two Apples and an Orange“ kommt als Reggae daher. Das Album macht eindeutig gute Laune und optimistisch. Das verdankt es der guten – und gut arrangierten Auswahl – der Tracks, vor allem aber der Wandlungsfähigkeit der Musiker. Allen voran Martina Gebhardt mit einer Stimme, die mitten ins Herz trifft und alles kann.
Verena Düren