Megaphon
Von Hans-Jürgen Linke
Die Buchstaben des griechischen Alphabets könnten auf die Dauer nicht ausreichen für all die Mutationen und Varianten, die das notorische Virus bildet. Dafür, dass Viren ihr Dasein auf der Grenze zwischen unbelebter und belebter Materie fristen, ist SARS-CoV-2 ziemlich listig. Und lästig. Und gefährlich. Sein nun schon zweiter pandemischer Sommer auf unserem Planeten hat verheerende Auswirkungen gezeitigt, unter anderem auch auf die gesellschaftlichen und kulturellen und mentalen Bedingungen, unter denen unsereins lebt. Ob der Kulturbetrieb in den nächsten Tagen und Wochen wieder ein bisschen in Gang kommen kann, ist aber vielleicht ein ganz kleines bisschen nebensächlicher als die vielgestaltige Klimakatastrophe, die mit Riesenschritten auf uns zubrennt und -schwappt. Das Virus und seine Mutanten-Mannschaften lenken davon oft recht effektiv ab. Das ist, bei allem Respekt vor medizinischen Themen und viralen Bedrohungen, vielleicht sogar die gefährlichste Wirkung des Virus: Stell dir vor, es ist Klimakatastrophe und keiner schaut hin. Oje.
So lange gibt es das Drei-Städte-Festival Enjoy Jazz im Rhein-Neckar-Raum jetzt schon: In diesem Jahr genießen wir zum 23. Mal den Jazz in Mannheim, Heidelberg, Ludwigshafen in einer regional und zeitlich ausgedehnten Konzertreihe. Das Festival geht diesmal vom 2.10 – 13.11. Es wurde im letzten Jahr ein wenig von diesem Ballon mit den Stöpseln, den wir so oft in Nachrichtensendungen sehen, behindert. Nun aber kommt das 23. seiner Art – möge es bitte, bitte wieder vollständig gelingen.
Im Rahmen des Enjoy Jazz Festivals wird wieder der renommierte SWR-Jazzpreis vergeben, und zwar in Ludwigshafen im Kulturzentrum dasHaus. Er geht in diesem Jahr an die Schlagzeugerin, Komponistin, Bandleaderin und Professorin Eva Klesse. Preisträgerkonzert ist am 18.10.
Gute Zeiten fürs Schlagzeug. Den Hamburger Jazzpreis, von der E.A. Langner Stiftung ins Leben gerufen und alle zwei Jahre vergeben, bekommt in diesem Jahr Silvan Strauß, Schlagzeuger. Er stammt aus dem Allgäu, leitet die Band TOYTOY, spielt zuweilen bei der NDR Bigband mit und sitzt in Lisa Wulffs Quartett, das vor zwei Jahren den gleichen Preis erhielt, am Schlagzeug selbstverständlich.
Das Wuppertaler Jazzmeeting soll vom 29.10. – 6.11. unter dem Solidaritätsmotto „Let’s Work Together“ stattfinden und wird dann unter anderem mit folgenden Acts aufwarten: Stephan Max Wirth Experience (29.10.), Joo Kraus Quartett (30.10.), Inga Eichlers Endeevior (2.11.), der Sängerin Tokunbo (4.11.) und dem Hanno Busch Trio (6.11.). Was es noch alles gibt, findet man unter
Auch in Ravensburg kehren hoffentlich bald wieder normale und produktive Zeiten ein. Die Leute von Jazztime e.V. sind guter Dinge, dass ihr Trans4Jazz Festival ab 10.11. stattfinden kann wie geplant. Eingeplant sind unter anderem Dee Dee Bridgewater, Lee Ritenour, Franziska Schuster, Ferenc Snétberger und Anders Jormin.
Der niederländische Komponist Louis Andriessen, geboren 1939, war ein kühner und umtriebiger Grenzgänger der Bühnenmusik, der mit Misha Mengelberg oder Willem Breuker arbeitete, Orchesterstudien wie De Snelheid oder De Opening schrieb wie auch das groß dimensionierte Musiktheaterwerk De Materie, dessen Aufführung in der Regie von Heiner Goebbels ein Höhepunkt der RuhrTriennale 2014 war. Seine letzten Jahre waren von einer fortschreitenden Demenz gezeichnet, am 1. Juli ist Louis Andriessen gestorben.
Wie offen ist der Jazz? Wo hat er seine Roots, was für Auswirkungen haben solche Wurzeln auf seine aktuellen Konturen? Hat die Wurzel-Metapher etwas mit dem Begriff Heimat zu tun? Ist Heimat etwas Begrenzendes? Und gibt es Gerechtigkeit? Mit der fast schon gewohnten Umsicht und Brisanz geht das 17. Darmstädter Jazzforum Fragen nach, die den aktuellen Jazz umtreiben (sollten). Das geschieht vom 30.9. – 2.10. Die Konferenz (Teilnahme nach Anmeldung) findet im HoffART Theater statt. Am 1.10. spürt die Kathrin-Preisträgerin Luise Volkmann in der Bessunger Knabenschule mit ihrem zehnköpfigen Ensemble LEONEsauvage den rituellen Möglichkeiten in afroamerikanischer und in ihrer eigenen Musik nach. Eine flankierende Ausstellung zeigt das Institut in den eigenen Räumen in der Bessunger Straße 88 d vom 4.10. – 31.12. Konferenz und Konzert werden im YouTube-Kanal des Jazzinstituts auch live gestreamt.
Dresden holt tief Luft nach dem Schlamassel, ruft „Jazz erst recht!“ und bietet, mit dankbar angenommener Förderung von Bund, Stadt und Land, die 21. Lieferung der Dresdener Jazztage. Genau genommen ging es schon im August los (am 23. mit Al Di Meola), im September gibt es mit Estas Tonne (4.9.) etwas Gitarristisches im Ostra Dome, und am 7. kommt Dominic Miller ins Parktheater. Das eigentliche Festival wird am 20.10. an der Frauenkirche eröffnet, am 21. ist Jazzmeia Horn im Ostra Dome und am 22. Tina Tandler mit Band am gleichen Ort. Am 23. spielt das Tingvall Trio dortselbst, am 26. spielen Mike Stern und Bill Evans. Es gibt eine üppig bestückte Gitarren-Nacht (27.), das Pasadena Roof Orchestra (30.) und Lee Ritenour (3.11.) – und so geht es weiter und weiter, denn das Festival zieht sich als kompakte Konzertreihe bis weit in den Herbst hinein und wartet noch mit Iiro Rantala sowie Dee Dee Bridgewater und Barbara Dennerlein mit der Dresden Bigband auf und bietet als Höhepunkt unter Höhepunkten einen Abend mit Curtis Stigers und dem, ja, Sie lesen richtig, Filmorchester Babelsberg (9.11.). Jetzt aber schnell auf die Website:
Nicht allzu weit entfernt von Dresden gibt es vom 30.9. – 9.10. die Leipziger Jazztage, die sich nicht auf einen Konzertort beschränken, sondern unter anderem im Alten Stadtbad, in der Musikalischen Komödie, in der Oper und in der Schaubühne Lindenfels, also eigentlich in der ganzen Stadt stattfinden. Das Festival setzt seine Zusammenarbeit mit dem Südtirol Jazzfestival fort und es gibt eine thematische Klammer: Nach all den virtuellen und gestreamten Ereignissen der vergangenen anderthalb Jahre geht es um Körperlichkeit im Kontext von Musikproduktion und -rezeption, um Potenziale und um Wege des Wahrnehmens, Fühlens, Ausdrückens. Auftreten werden unter anderem das Jakob Bro Trio, Nick Dunstons Skultura und die Band Fallen Crooner. Aber, ach, die Liste ist so lang: Seht sie euch am besten selbst an unter
www.jazzclub-leipzig.de/leipziger-jazztage/
Bitte sagen Sie nicht gleich wieder „Zuckerpuppe“. Das würde Bill Ramsey unnötig ärgern. Jetzt, wo er gestorben ist, besonders unnötig. Bill Ramsey war ein wunderbarer Blues- und Jazzsänger, ein ewig guter Radio-Moderator und Programmacher und bis ins hohe Alter ein zauberhaft spontaner und freundlicher Amerikaner. Mit der Army kam er vor langer Zeit hier an, lernte Menschen kennen, die, wie er, Musik im Kopf hatten, und blieb. Ließ sich überzeugen, dass man vom Jazz allein nicht gut leben kann und darum ein bisschen zusätzlichen Schlagerspaß machen könnte. Fand sich dann im Lager der Spaßmacher wieder, die in Deutschland nicht ernst genommen werden. Hörte aber selbst nicht auf, Jazz ernst zu nehmen und zu verbreiten. Am 2. Juli starb er in seiner Wahlheimat Hamburg. Wenn Sie ihm irgendwo da oben später mal begegnen sollten, meiden Sie Worte wie „Mimi“ und „Krimi“. Summen Sie lieber „Send in the Clowns“.
Lassen wir uns nicht von Jahreszahlen verwirren, es ist ja alles so schon verwirrend genug. Den BMW Jazz Award 2020 jedenfalls bekam jetzt (also 2021) das Peter Gall Quintet, das sich im Finale im Münchner Gasteig gegen das Adam Bałdych Quartet durchsetzte. Beide Finalisten, fand die Jury, hätten das Motto „The Melody at Night“ überzeugend umgesetzt, aber Galls Band hat die Jury dann doch fast in einen Rausch versetzt. Und wer hätte so etwas (also einen Rausch) nicht auch gern. Gratulation!
Drei Abende mit je fünf Musiker*innen und alle solo, das ist die Idee der Berlin Solo Impro Konzerte, die vom 28. – 30.9. im Acker Stadtpalast stattfinden. Außer den je fünf Solo-Performances pro Abend gibt es je ein Podiumsgespräch und ein gemeinsames Abend-Finale aller jeweils fünf Musiker*innen. Es gibt gewisse Hygiene-Vorschriften zu beachten und keine Abendkasse.
Der Posaunist Raul de Souza ist gestorben, Hans Hielscher schrieb uns: „Dass seine letzte Platte trotz der Corona-Beschränkungen ein Erfolg wurde, konnte Raul de Souza noch erleben. Über die Jazz-Szene hinaus bekannt wurde der vielseitige Musiker durch seinen Welterfolg ,Sweet Lucy‘. Das Album Plenitude, das der brasilianische Posaunist mit seiner Generations Band im Hamburger Clouds Hill Studio einspielte, hatte schon zwei Wochen nach dem Erscheinen im Mai 100.000 Streams auf Spotify. De Souza starb am 23. Juni im Alter von 86 Jahren in Frankreich.“
Das passiert nicht oft, dass ein Jazzfestival eine solche Auszeichnung bekommt: Der German Brand Award der German Brand Convention ging an die Veranstalter des Internationalen Jazzfestivals Saalfelden für deren Sujet des Jahres 2019 in der Kategorie „Excellence in Brand Strategy and Creation“. Das Festival hatte sich zu seinem 40. Jubiläum um mehrere Bühnen erweitert und auf über 80 Konzerte ausgedehnt. Der öffentliche Auftritt wurde von der Agentur Rahofer mitgeformt und führte zu einem Gebilde aus ideellen Klangwesen, die gemeinsam eine interaktive Metapher bildeten. Die Preisverleihung fand Anfang Juni über den hohen Dächern Frankfurts statt.
John Dennis Renken, Trompeter und gebürtiger Bremer, ist Träger des Jazz Pott 2021, der an innovativ auffällige Jazzmusiker geht. Renken war 2017 Mœrser Improviser in Residence und hat in zahlreihen Ensembles mitgewirkt, vom Zodiac Trio bis zur Großformation The Dorf. Mit seiner Formation Tribe gibt er am 19.9. im Essener Grillo Theater das Preisträgerkonzert.
Jon Hassell, aufgewachsen in Memphis, Tennessee, studierte an der Eastman School of Music und später auch bei Karlheinz Stockhausen in Köln. Er traf 1967 Terry Riley, war als Trompeter an Aufnahmen von dessen Musik beteiligt, arbeitete später mit La Monte Young und galt als Exponent der Minimal Music mit Bezügen in die Stilbereiche Fusion und Weltmusik. Er befasste sich intensiv mit indischer Musik und Mikrotonalität und kreierte einen lyrischen Stil, der Musiker wie Arve Henriksen und Nils Petter Molvær und Ambient-Musiker wie Brian Eno, Peter Gabriel und David Sylvian beeinflusste. Jon Hassell starb am 26. Juni im Alter von 84 Jahren.
Eberhard Weber, legendärer Bassist mit selbst gebautem Instrument und selbst kreiertem Sound, ist im schwäbischen Esslingen aufgewachsen. Darum ist ihm die Ausstellung „Colours of Jazz“ im Stadtmuseum im Gelben Haus in Esslingen gewidmet, die noch bis zum 24.10. zu erleben ist. Der Verlag Equinox Publishing im britischen Sheffield bringt im Oktober das autobiografische Buch Resume – Eine deutsche Jazzgeschichte von Eberhard Weber in englischer Sprache heraus. Das Buch war 2015 auf Deutsch erschienen und bildete die Basis für Julian Benedikts Dokumentarfilm Rebell am Bass. Die englische Ausgabe trägt den Titel Eberhard Weber – A German Jazz Story, wird etwa 200 Seiten mit 36 Fotos umfassen und 25 £ bzw. 29,95 $ kosten.
Der Junge Münchner Jazzpreis ging in diesem Jahr an den Dresdener Pianisten Vincent Meissner und sein Trio mit Josef Zeimetz (b) und Henri Reichmann (dr). Der zweite Preis ging an das Anton Mangold Trio aus Würzburg, der dritte an das Linntett um die Holzbläserin Kira Linn. Ort der Preisverleihung war die bewährte Münchner Unterfahrt.
Der Vierteljahrespreis der Jazz-Abteilung II beim Preis der Deutschen Schallplattenkritik geht an Vijay Iyer und sein Trio für die ECM-Produktion Uneasy.
Chicago war 1937, als Burton Greene dort geboren wurde, keine sehr bequeme Stadt. Greenes Mutter war Pianistin und ließ ihn von 1944 – 1951 an der Fine Arts Academy studieren, dann zog es ihn zum Modern Jazz und nach New York. Auch keine bequeme Stadt. Er gehörte dort in den 1960er Jahren zur Free-Jazz-Szene, gründete mit Alan Silva das Free Form Improvisation Ensemble und war 1964 Mitbegründer der Jazz Composers’ Guild. Er spielte mit Marion Brown, Henry Grimes, Albert Ayler, Gato Barbieri und Sam Rivers und ging 1969 nach Europa, wo er vor allem in Amsterdam lebte und mit Musikern wie John Tchicai, Archie Shepp, Johnny Dyani, Willem Breuker oder Anthony Braxton arbeitete. Während der 1980er Jahre beschäftigte er sich mit Klezmer-Musik, gründete die Klezzthetics, arbeitete daneben mit Ernst Reijseger und Wilber Morris. Am 28. Juni starb er mit 84 Jahren in Amsterdam.
Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg hat einmalig Fördermittel für die Finanzierung von Video-Produktionen in den Jazzclubs des Landes zur Verfügung gestellt. Bewerbungen über ein Online-Formular sind bis zum 31.1.22 möglich.
http://jazzverband-bw.de/foerderungen/sonderprogramm-videomitschnitte
Juini Booth, zuweilen auch Juni, Jooney oder Joonie geschrieben, kam aus Buffalo, NY, und spielte Klavier, Cello und Bass. Ab 1962 besuchte er die kommunale Musikschule in Buffalo, gehörte Mitte der 1960er Jahre zu den Jazz Messengers, spielte mit Abdullah Ibrahim, Donald Byrd, Albert Ayler, Charles Gayle, Butch Morris und Hamiet Bluiett. Ende der 1980er Jahre wurde er Mitglied in Sun Ras Arkestra. Am 11. Juli ist er mit gerade 73 Jahren gestorben.
Der APPLAUS ist einer der höchstdotierten Bundeskulturpreise mit einem Preisgeld von insgesamt 2,7 Millionen Euro. Kulturstaatsministerin Monika Grütters überreichte die Auszeichnung nach einem Jahr Pandemiepause an 118 Ausgezeichnete. Mit einem Sonder-APPLAUS wurden darüber hinaus zwölf Teams und Projekte in der Clubkultur geehrt, die den Herausforderungen der Pandemie mit besonderer Kreativität begegnet sind. Darunter waren das Harry Klein in München, der Magdeburger Moritzhof, der Zig Zag Jazzclub in Berlin sowie das Netzwerk Cologne Culture Stream. Natürlich gab es noch weitere APPLAUS-Auszeichnungen.
Jerry Granellis Karriere erstreckte sich über fast sechs Jahrzehnte. Geboren 1940 in San Francisco, arbeitete er Anfang der 1960er Jahre schon professionell als Schlagzeuger in verschiedenen Bands, begleitete den Sänger Jon Hendricks und spielte im Trio von Denny Zeitlin. Später arbeitete er mit Ralph Towner und Charlie Haden, Gary Peacock und Charlie Mariano und wurde 1999 kanadischer Staatsbürger. Neben seiner Professur an der Hochschule der Künste in Berlin arbeitete er mit den Gitarristen Kai Brückner und Christian Kögel sowie dem Bassisten Andreas Walter in der Band UFB, war an Aufnahmen mit Lee Konitz, Jay Clayton und Jane Ira Bloom beteiligt. Mitten in den Vorbereitungen zu einer Kanada-und-Europa-Tournee erlitt er im Dezember 2020 eine innere Blutung, von der er sich zunächst scheinbar erholte, bis er überraschend im Juli starb.
Elliott Sharp ist in diesem Jahr 70 geworden, was in Bonn (10. September – Dialograum Kreuzung an St. Helena), Wuppertal (11.9. – ort e.V.) und Köln (12.9. – Loft) mit Konzerten gefeiert wird. Am 16.9. wird in Bonn und am 17.9. in Moers sein Monodrama für einen Bassbariton Die größte Fuge aufgeführt.