n jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Quentin Ghomari

ÔTRIUM – deuxième mouvement

Neuklang / in-akustik

4 Sterne

Flügelhorn, Kontrabass, ein mit Besen gespieltes Schlagzeug – klanglich ist man sofort ganz nah dran, fast schon mittendrin. Die Verbundenheit des Trios von Trompeter Quentin Ghomari vermittelt sich unmittelbar. „The Peacocks“, der Klassiker von Jimmy Rowles, ist dafür ein perfektes Vehikel. Das gilt gleichermaßen für die Stilistik Ghomaris, seine Art des Ausdrucks. Ob Flügelhorn oder Trompete: Der Franzose entwickelt ebenmäßige, melodisch orientierte Linien bis hin zum Sanglichen. Keine eruptiven Ausbrüche, kein wildes Flackern oder raues Schleifen. Dabei birgt sein Spiel jederzeit Kraft und emotionale Tiefe. Der Gruppenname Ôtrium führt die Worte „Trio“ und „otium“ (kreative Muße) zusammen. Der Untertitel deutet es an: Dies ist das zweite Album der Formation, die sich als Working Band etabliert hat. Ghomari kommt aus dem Kreis von Papanosh, gegründet vor fast zwei Jahrzehnten in Rouen, seiner Heimatstadt in der Normandie. Daneben war er schon immer in diversen anderen Zusammenhängen aktiv. Bassist Yoni Zelnik, gebürtiger Israeli, ist unter anderem Fachkraft im Trio von Pianist Yonathan Avishai, ebenfalls Wahlfranzose. Drummer Antoine Paganotti trommelte einst bei den Prog-Avantgardisten Magma, ansonsten in Gruppen von Kollegen wie Baptiste Trotignon. Auf vier Tracks stößt hier Klarinettist und Saxer César Poirier dazu, dessen Gruppe Vivarium wiederum Ghomari angehört. Es gibt einzelne Bop-Bezüge (darunter Parkers „Relaxin‘ at Camarillo“). Ghomaris eigene Stücke stecken meist offenere Felder ab bis hin zum dynamisch entwickelten „Mamie in the Sky“. Feinste Trio-Kunst.
Arne Schumacher

Vincent Peirani

Living Being IV: Time Reflections

ACT / Edel
4,5 Sterne

Die Corona-Pandemie zwang auch das Quintett Living Being zu einer Pause. Das seinerzeit geplante dritte Album der Band um den französischen Akkordeonisten Vincent Peirani hat man nun einfach übersprungen, daher erscheint nun Living Being IV als Nachfolger von Living Being II: Night Walker (2018). Neben Peiranis Duopartner, dem Saxofonisten Émile Parisien, besteht die Formation aus Tony Paeleman (keyb), Julien Herné (eb) und Yoann Serra (dr), seit 2011 in dieser Besetzung. Auch diesem Umstand mag der Untertitel Time Reflections Rechnung tragen. Die Ballade „Le Cabinet des Énigmes“ markiert einen verblüffend feingliedrig-verspielten Auftakt. Afrobeatig vibrierende Fusion prägt den ersten Teil der Lionel-Loueke- Hommage „L.L.“, elektrifizierter Freeform-Art-Rock den zweiten. „Physical Attraction“ folgt als zunehmend psychedelischer Reggae. Im Zentrum des Albums steht die dreiteilige Suite „Time Reflections“, deren Bogen vom trauermarschartigen „Clessidra“ über den Walzer „Better Days“ zum hymnischen „Inner Pulse“ reicht. Wundersamerweise funktioniert auch die „Bremain Suite“, die Songs von Queen („Under Pressure“), Portishead („Glory Box“) und den Beatles („I Want You“) vereint. In „Phantom Resonanz“ trifft schließlich Renaissance-Polyphonie auf zeitgenössische Improvisationskunst – nicht zum Wettstreit, sondern zum jahrhunderteüberspannenden Gedankenaustausch über den Lauf der Zeit

Harry Schmidt

Paul Cornish

You’re Exaggerating

Blue Note / Universal

5 Sterne

Die Vorschusslorbeeren für Paul Cornish haben es in sich: Sein Debütalbum beim legendären Label Blue Note, veröffentlicht im Fahrwasser der jüngsten Produktion von Joshua Redman (er ist der aktuelle Pianist seines Quartetts), sei ein Symbol für dessen regenerative Kraft, Cornish selbst ein Fackelträger für zukünftige Generationen. Eine hohe Messlatte. Und eine, die der 28-Jährige tatsächlich überwinden kann. Auf „You’re Exaggerating“ präsentiert er sich als brillanter Virtuose, der mühelos in die Fußstapfen eines Herbie Hancock treten kann und gleichzeitig – bereits jetzt – seinen eigenen Weg verfolgt. Und der führt ihn konsequent an allen Grenzen entlang statt darüber hinweg. Kein Wunder, dass er ausgerechnet Geri Allen als großes Vorbild nennt, weil sie sich in jeder Besetzung wohlfühlte und in jedem Stil, ob nun traditionell oder avantgardistisch. „Sie musste sich nicht anpassen und versuchen, sich einzufügen“, hat Cornish in einem Interview gesagt. „Sie war einfach, wer sie war. Niemand konnte Geri in eine Schublade stecken. Das hat mich inspiriert.“ Der Pianistin hat Cornish auch das Stück „Queen Geri“ gewidmet, eine vertrackt groovende Komposition, umgesetzt voller Spielfreude, bei der die Intensität zwischen Cornish, Bassist Joshua Crumbly und Drummer Jonathan Pinson durch die Decke geht. Stark aber auch „Quienxiety“, in dem Cornish seiner inneren Aufregung freien Lauf lässt, während der ruhige „Slow Song“ deutlich dessen klassische Prägung verdeutlicht. Von diesem Mann – und hoffentlich auch von diesem Trio – wird man sicherlich in Zukunft noch einiges hören.

Thomas Kölsch