Nguyên Lê Quartet

Streams

ACT / Edel:Kultur

5 Sterne

Der 60-jährige Gitarrist aus Frankreich nennt sich die personifizierte Fusion der Kulturen“. In Stücken wie Hippocampus, „Swing a Ming“ und „The Single Orange“ spielt er diesmal zwar eine zupackende Rockjazz-Gitarre, fast näher beim Rock als beim Jazz. Doch wer genauer hinhört, stolpert immer wieder über Phrasen und Sounds, die aus ganz anderen Musikgegenden zu kommen scheinen deutlicher wird das in Stücken wie „Bamiyan, „Mazurka“ oder „Sawira“. In den multikulturellen Unterströmungen dieses Albums wirbeln Spurenelemente aus Nordafrika und Ostasien, aus der Karibik und Osteuropa. Nguyên Lê bedient sich bei Skalen, Rhythmen, Figuren und Taktarten der halben Welt. Diese globale Note ist eines der Markenzeichen seines Gitarrenjazz aber sie ist so organisch ins Ganze integriert, wie das wohl nur ein Musiker mit jahrzehntelanger weltmusikalischer Spielpraxis hinbekommt. Streams ist jedenfalls deutlich jazziger geraten als so manche frühere Scheibe. Nguyên Lês Quartett bildet dabei eine kompakte, groovende Einheit, der zuzuhören einfach Spaß macht. Illya Amar, Stiefsohn des Bandleaders, bringt mit seinem Vibrafon erfrischende Töne ins Spiel. Chris Jennings und John Hadfield an Bass und Schlagzeug zeigen sich so rhythmusfest wie weltoffen. Eine Band kann bereits eine Botschaft sein.

Hans-Jürgen Schaal

Dotschy Reinhardt

Chaplin’s Secret

Galileo

4,5 Sterne

Charlie Chaplins Geheimnis – das soll ein Brief sein, der 1991 publik wurde und in den Raum stellt, dass der große Schauspieler, Komiker und Musiker Charlie Chaplin, über dessen Abstammung nichts belegt ist, aus einer Familie von Sinti und Roma stammt. Bis über seinen Tod hinaus hat er diese Information geheim gehalten, vielleicht aus Angst vor Benachteiligung? Diese Überlegung bildet den roten Faden auf Dotschy Reinhardts neuem Album, auf dem sie in Standards u.a. von ihrem Vorfahren Django Reinhardt („Django’s Tiger“), Eigenkompositionen, aber auch Chaplins „Swing Little Girl“ seinen und ihren eigenen musikalischen Wurzeln nachspürt. Musikalisch verbindet die Sängerin, die eine Sinteza ist und sich als Menschenrechtsaktivistin gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma starkmacht, hier Gypsy Swing, Bossa Nova und Jazz. Unterstützt wird sie dabei passenderweise von einer internationalen Band mit Roberto Badoglio (e-b), Max Hartmann (d-b), Alexey Krupksky und Alexey Wagner (g), Christian van der Goltz (p), Daniel Weltinger (viol) und Nir Sabag (dr) als Gastmusiker. Sie alle tragen zur Vielfalt der Platte bei, wobei vor allem durch Weltinger, Krupksky und Wagner oft der Gypsy-Charakter durchscheint. Als besondere Hommage singt Dotschy Reinhardt – wie bereits auf vorherigen Alben – einen Song in Romanes, der Sprache der Sinti und Roma. Alles in allem ein abwechslungsreiches, wunderbar entspanntes Album mit einer brandaktuellen und starken politischen Aussage.

Verena Düren

Paolo Angeli

22.22 – Free Radiohead

AnMa / ReR

4 Sterne

Es bleibt dabei: Wenn Musiker mit Affinität zu Jazz und Experimentellem in der jüngeren Pop- und Rockmusik nach covernswerten Stücken suchen, landen sie irgendwann unweigerlich bei Radiohead. So auch Paolo Angeli. Der 48-jährige Sarde hat sich ausgiebig mit der englischen Band beschäftigt und Stücke aus 20 Jahren Bandgeschichte für sein einzigartiges Instrument bearbeitet. Angeli spielt eine selbstentwickelte Erweiterung der sardischen Baritongitarre, die einige Extras aufweist: Fußpedale, um einzelne Saiten mit Hämmern anschlagen zu können, zwei Sätze mitschwingender Resonanzsaiten sowie im Innern der Gitarre elektrisch betriebene Propeller. Mit Präparationen und besonderen Spieltechniken, etwa dem Streichen mit einem Bogen, erzeugt er Klänge, die Cello, Gambe und exotischen Streichinstrumenten wie Kamantsche oder Gadulka ähneln, oder begleitet sich selbst mit Drones.

Was ihm zu Radiohead einfällt, ist vielfältig und sehr unterschiedlich stark verfremdet. Wirken einige Titel, etwa „Optimistic“ (von Kid A), wie instrumentale Unplugged-Versionen, die die Vorlagen leicht in Richtung Ambient- und Worldmusic-Gefilde schieben, setzt er in anderen Stücken deutlicher eigene Akzente, lässt Klangteppiche rhythmisch und Perkussives flächig werden, etwa in „Idioteque“, das schließlich organisch in ein traditionelles sardisches Lied übergeht. Zu den größeren Hörabenteuern gehört „Airbag“ (von OK Computer), das in Angelis Version Balkan- und Orient-Assoziationen weckt. Kunstvoll verbindet der Gitarrist die Coverversionen mit Überleitungen und eigenen Kompositionen. So entsteht ein 75-minütiger durchgehender Klangfluss, in dem die Radiohead-Bearbeitungen, eigene Stücke und zwei Volkslieder ununterscheidbar ineinander übergehen. Eine interessante Hörerfahrung.

Guido Diesing