Vadim Neselovskyi
„Ich möchte helfen mit dem, was ich am besten kann“
Eigentlich hatte Vadim Neselovskyi auf dieser Tour nur ein neues Werk vorstellen wollen. Sein persönlichstes zwar, denn in einer großen Piano-Suite hatte der aus der Ukraine stammende Komponist eigene Erfahrungen verarbeitet: glückliche, wie die kindliche Vorfreude auf ein Leben mit Musik, verwirrende, wie die erste Verliebtheit, und schmerzliche, wie den Tod seines Vaters. Zugleich war das Soloprogramm gedacht als poetische Hommage an seine Geburtsstadt Odessa, die Kulturmetropole am Schwarzen Meer.
Von Barbara Steingießer
Doch dann kam alles anders. Am 24. Februar, dem ersten Tag des Krieges, schrieb
sein Agent per E-Mail an die Veranstalter der bevorstehenden Konzerte: „Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine überrollen auch uns. Mit den russischen Angriffen auf Odessa hat das Programm nun eine andere Note erhalten: Es ist ein Zeichen gegen das Unrecht. Es erinnert an die Menschen, die in diesen Tagen der täglichen Gefahr ausgesetzt sind, verletzt oder getötet zu werden. Und es setzt der Stadt Odessa ein Denkmal.“
Vadim Neselovskyis Lebensweg zeigt, wie ein außergewöhnliches Talent die größten Hindernisse überwindet. 1995 wanderte er als jüdischer Kontingentflüchtling mit seinen Eltern nach Deutschland aus. Der damals 17-Jährige erreichte das Flüchtlingslager ohne deutsche Sprachkenntnisse, aber mit absolutem Gehör. Sein wichtigstes Gepäckstück: ein Klavier.
Heute ist Neselovskyi auf der ganzen Welt zu Hause, er unterrichtet Studenten aller Kontinente. Doch als er 1977 in der Sowjetunion geboren wurde, waren Grenzen für ihn unpassierbar. Vielleicht stammt daher seine Faszination für deren Überwindung. Stilistische Grenzen hält er für genauso künstlich wie geografische. „Entweder berührt mich Musik oder sie berührt mich nicht“, sagt er. „Das ist das einzige Kriterium.“ Für ihn ist Musik ein Ozean. Nachdem er schon Klassik im Heimatland Bachs studierte hatte, gelang es ihm, auch den Jazz an dessen Quelle zu erlernen, in den USA: am Berklee College in Boston und am Thelonious Monk Institute in New Orleans.
Aus dem College heraus engagierte ihn der Vibrafonist und siebenfache Grammy-Preisträger Gary Burton für sein Quintett. Die gemeinsame CD Next Generation erreichte Platz 1 der US-Jazz-Charts. „Ich denke nicht“, so Burton, „dass ich jemals einen Improvisator getroffen habe, der mehr Überraschungen auf Lager hat. Er ist ein wahres Genie.“ Und Fred Hersch sagt über den jüngeren Kollegen: „Ich glaube wirklich, dass er einer der größten Pianisten-Komponisten ist, die es derzeit gibt.“
Der Krieg hat Neselovskyis Leben verändert. „Man kann nicht mehr sagen: Wir sind Künstler, wir haben nichts mit Politik zu tun“, erklärt er. „Das kann man sich jetzt nicht mehr leisten. Es geht nicht um Politik. Es geht um Gerechtigkeit. Es geht um das Schlechte und das Gute.“ Seit Kriegsbeginn arbeitet der Pianist an der Planung von Benefizkonzerten. „Ich mache nichts anderes mehr“, sagt er. „Ich kann nicht mit Waffen umgehen. Ich möchte helfen mit dem, was ich am besten kann.“ Also reist er mit seiner Odesa-Suite um die Welt und verzichtet auf seine Gage, damit die Einnahmen zu 100 Prozent für die Menschen in seiner Heimat gespendet werden können.
Odesa ist eine große musikalische Erzählung mit Themen und Motiven, die – ähnlich wie Mussorgskys Bilder einer Ausstellung – die Fantasie anregen. Vor dem inneren Auge erscheint etwa in „Odesa Railway Station“ eine Eisenbahn, die mit vorantreibendem Rhythmus die Reise in Gang bringt, oder in „Potemkin Stairs“ das Wahrzeichen der Stadt, die mächtige, zum aufgewühlten Meer hinabführende Treppe, die sich durch Eisensteins Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin in das optische Gedächtnis der Cineasten eingebrannt hat.
Die Suite handelt von der ukrainischen Hafenstadt, bevor sie von russischen Raketen getroffen wurde. Vor dem Hintergrund des Krieges jedoch klingt Odesa anders. Die Melodien und die Assoziationen, die sie auslösen, wandeln sich. „Winter in Odesa“ zum Beispiel, ein lyrisches und transparentes Stück, in dem sich der Pianist daran erinnert, wie er als 16-Jähriger frühmorgens, als die Stadt noch schlief, durch den glitzernden Schnee zum Konservatorium ging. Heute hat er dabei andere Bilder im Kopf: „Weil die Melodie so zerbrechlich ist, musste ich an das Baby denken, das zusammen mit seiner Mutter beim ersten Raketeneinschlag getötet wurde. Und auf einmal war da eine tiefe Traurigkeit.“
Mit größter Wucht spürt man das in „Odesa 1941“, dem erschütterndsten Stück der Suite, in dem brachiale Cluster jedes zarte Aufbäumen zum Schweigen bringen. Auch wenn das Stück die Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg behandelt, mischen sich die Erinnerungen an historische Ereignisse wie von selbst mit Aufnahmen aus aktuellen Nachrichten. Die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos aus den Archiven verwandeln sich plötzlich in farbige.
Faszinierend bleibt, wie Musik das alles verarbeiten und darüber hinaus Inspiration aus dem Augenblick schöpfen kann, so etwa beim Konzert im Goethe-Museum Düsseldorf: Als Vadim Neselovskyi das Haus betrat, fiel sein Blick auf Beethovens Vertonung eines Goethe-Gedichts. Spontan hatte er die Idee, als Zugabe darüber zu improvisieren. Als er sich später nach dem Text erkundigte, war die Verblüffung groß. Denn die im Kanon als Appell an die Humanität immer wiederholten Worte erschienen beim Benefizkonzert in neuem Licht: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“
Aktuelles Album:
Vadim Neselovskyi: Odesa – A Musical Walk through a Legendary City (Sunnyside Records)